Augsburger Allgemeine (Land West)

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (2)

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Dass eine Entstellun­g vorliegen müsse, dass die Entstellun­g die Interessen des Urhebers gefährden müsse, dass die Interessen des Urhebers nur schutzwürd­ig seien, wenn ein größerer Personenkr­eis das entstellte Werk zu sehen bekomme, und dass der Eigentümer mit dem Werk, wenn es nur in seinem Privatbere­ich zu sehen sei, machen könne, was er wolle. „Ich kann Gundlach wieder schreiben und das eine und andere rechtliche Argument bringen. Aber wenn wir vor Gericht gehen müssen, sieht’s nicht gut aus. Was zeigt das Bild eigentlich?“

„Eine Frau, die eine Treppe herabkommt.“Er sah sich in meinem Büro um. „Es ist ein großes Bild. Sie sehen die Tür? Das Bild ist ein bisschen größer.“„Eine bestimmte Frau?“„Sie ist…“, sein Ton wurde trotzig, „sie war Gundlachs Frau.“

Wieder antwortete Gundlach sofort. Er bedauere das erneute Missverstä­ndnis. Natürlich sei er mit der

Restaurier­ung durch den Maler einverstan­den. Was könne ihm Besseres passieren, als dass der Künstler selbst das beschädigt­e Kunstwerk restaurier­e. Außer Hause dürfe er das Bild nicht geben, er würde sonst den Schutz der Versicheru­ng verlieren. Der Maler könne in sein Haus kommen, wann immer er wolle. Ich gab die Antwort wieder weiter.

Ich war neugierig geworden, ging in eine Buchhandlu­ng und fragte nach Literatur über Karl Schwind. Der Frankfurte­r Kunstverei­n hatte vor einigen Jahren eine Ausstellun­g veranstalt­et und einen kleinen Katalog veröffentl­icht – das war alles. Ich verstehe nichts von Kunst und konnte nicht beurteilen, ob die Bilder gut oder schlecht waren. Es waren Bilder mit Wellen, mit Himmel und Wolken, mit Bäumen; die Farben waren schön, und alles war in derselben Unschärfe gemalt, mit der ich die Welt sehe, wenn ich die Brille nicht trage. Vertraut und doch entrückt.

Der Katalog erwähnte die Gale- rien, in denen Schwind ausgestell­t, und die Preise, die er gewonnen hatte. Er schien kein gescheiter­ter Künstler zu sein, auch kein etablierte­r, vielleicht ein kommender. Von der Rückseite des Katalogs schaute er mich an, zu groß für den Anzug, den er trug, zu groß für den Stuhl, auf dem er saß, zu groß für die Rückseite.

Es dauerte keine Woche, bis er wieder bei mir war, wieder mit der Frau. Er war wirklich groß, größer, als ich bei seinem ersten Besuch registrier­t hatte. Ich bin eins neunzig, schlank und war damals wie heute gut in Form, und er war nicht größer als ich, aber so kräftig und knochig, dass ich mich neben ihm beinahe klein fühlte. „Er hat es wieder gemacht.“Ich ahnte, was geschehen war, aber ich greife meinen Mandanten nicht vor. „Was hat er gemacht?“

„Gundlach hat das Bild wieder beschädigt. Ich habe zwei Tage am Bein gearbeitet, und als ich es am dritten fertigmach­en wollte, war ein Säurefleck auf der linken Brust. Die Farbe ist verlaufen, aufgequoll­en, hat Blasen geworfen – ich muss abtragen, neu grundieren und neu malen.“„Was hat er gesagt?“„Ich müsse es gewesen sein. Er habe in meinen Sachen ein Fläschchen gefunden, und die Flüssigkei­t stinke, wie der Fleck stinke. Er besteht darauf, dass das Bild restaurier­t wird, auf meine Kosten, aber nicht von mir. In mich habe er kein Vertrauen mehr.“Er sah mich verstört an. „Was soll ich machen? Ich lasse keinen anderen an mein Bild.“

„Sind Sie bereit, auch die neue Stelle auszubesse­rn?“Ich wusste immer weniger, was ich von der Geschichte halten sollte.

„Stelle? Es ist nicht eine Stelle. Es ist die linke Brust!“Er griff der Frau, die neben ihm saß, an die linke Brust.

Ich war irritiert, aber sie lachte, nicht verschämt, nicht verlegen, sondern fröhlich, der Mund ein bisschen schief und ein Grübchen in der Wange. Sie war blond, und ich hätte ein helles Lachen erwartet. Aber ihr Lachen war dunkel und rauchig, und so war auch ihre Stimme. Sie sagte „Karl“, und sie sagte es liebevoll, wie zu einem übereifrig­en, ungeschick­ten Kind.

„Ich habe ihm angeboten, das Bild wieder zu richten. Ich habe ihm sogar angeboten, es zurückzuka­ufen, wenn es sein muss, für den doppelten Preis. Aber er will nicht. Er will mich nicht mehr sehen, hat er gesagt.“

Diesmal rief ich Gundlach an. Er sprach freundlich, bedauernd. „Ich weiß nicht, wie ihm das Missgeschi­ck passiert ist. Aber dass er darunter leidet und das Bild wieder in seiner ursprüngli­chen Schönheit sehen will, steht außer Frage. Das will auch ich, und kein anderer kann es besser restaurier­en als er. Ich habe ihm auch weder Vorwürfe gemacht noch das Vertrauen entzogen. Er ist besonders sensibel.“Er lachte. „Jedenfalls für Menschen wie Sie und mich. Für einen Künstler ist er vielleicht normal.“

Schwind war zugleich erleichter­t und bedrückt. „Hoffentlic­h geht alles gut.“

Drei Wochen hörte ich nichts von ihm. Drei Wochen malte er eine neue linke Brust. Als er für die letzten Arbeiten kam, war das Bild in der Nacht umgestürzt, auf den kleinen eisernen Tisch aufgeschla­gen, auf dem er Pinsel und Farben abgelegt hatte, und hatte einen Riss abbekommen.

Gundlach rief mich an und war außer sich. „Zuerst die Säure, jetzt das – er mag ein großer Künstler sein, aber er ist entsetzlic­h nachlässig. Ich kann ihn nicht zwingen, das Bild noch mal zu restaurier­en. Aber ich habe einigen Einfluss und werde dafür sorgen, dass er keinen Auftrag kriegt, bis er das Bild restaurier­t hat.“

Der Drohung hätte es nicht bedurft. Schwind, der am selben Tag in die Kanzlei kam, war bereit, das Bild zu richten, auch wenn es ihn wieder Wochen kosten würde. Aber er war verzweifel­t. „Was, wenn er es danach wieder macht?“„Sie meinen?…“„Oh, ich weiß, dass er es war. Denken Sie, ein Maler kann ein Bild nicht so an die Wand lehnen, dass es stehen bleibt? Nein, er hat es umgeworfen, und den Riss hat er mit dem Messer gemacht. Die Kanten des Tischs sind zu stumpf, sie können keinen so scharfen Riss ins Bild machen.“

Er lachte bitter. „Wissen Sie, wo der Riss ist? Hier.“Diesmal fuhr er mit der Hand nicht der Frau, die ihn wieder begleitete, sondern sich selbst über Bauch und Scham. „Warum sollte er das tun?“„Aus Hass. Er hasst das Bild, das seine Frau zeigt, er hasst seine Frau, die ihn verlassen hat, und er hasst mich.“„Warum sollte er Sie…“„Er hasst dich, weil ich ihn für dich verlassen habe.“Sie schüttelte den Kopf. „Er hasst nicht das Bild. Es ist ihm völlig gleichgült­ig. Er will dich treffen, und er trifft dich, wenn er das Bild beschädigt.“

„Statt es mit mir auszutrage­n, zerstört er das Bild? Was für ein Mann ist das?“Vor lauter Empörung über Gundlach, lauter Verachtung für ihn stand er auf. Dann setzte er sich wieder und ließ die Schultern hängen.

 ??  ?? Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben…
Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag...
Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag...

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