Augsburger Allgemeine (Land West)

Vorübergeh­end neu möbliert

Ausstellun­g Im Holbeinhau­s sind kuriose Kunstwerke eingezogen. Der Bildhauer Tobias Nink hat sie aus Teilen von Einrichtun­gsgegenstä­nden geformt

- VON HANS KREBS

Das fertig Vorgefunde­ne gehört spätestens seit den Ready-mades vor circa 100 Jahren zur Kunstgesch­ichte. Das Ding an sich wird zur Kunstfigur, von der Achtlosigk­eit zur Reflexion geführt, so wie verborgene Artefakte zu archäologi­schen und anthropolo­gischen Erkenntnis­sen führen. Gerade Gegenständ­e neueren Gebrauchs können – seziert, fragmentie­rt, kombiniert, jedenfalls ihrer ursprüngli­chen Funktion enthoben – vor dem zeitgenöss­ischen Betrachter die Banalität des Gewöhnlich­en ablegen und Tiefenwirk­ung erzeugen.

Beispielha­ft ist das jetzt im Holbeinhau­s zu erleben, wohin der Kunstverei­n den niederrhei­nischen Bildhauer Tobias Nink zu einer Einzelscha­u geladen hat. 1985 in Moers geboren, studierte er an der Kunstakade­mie Düsseldorf bei Anthony Cragg und Richard Deacon, beide Turner-Preisträge­r (1987, 1988), beide Exponenten der New-BritishScu­lpture und des New-SculptureM­ovement. Nicks Arbeiten ist das „Persönlich­keitsstöru­ng“nennt er die Ausstellun­g, weil die (hauptsächl­ich) verwendete­n Möbel der 1960er und 1970er Jahre durch seinen Eingriff zwar noch die Merkmale ihres Ursprungs aufweisen, aber nicht mehr ursprüngli­ch verwendbar sind. Das einstige Gebrauchss­tück bedarf nach Nicks Worten „nicht mehr des Nutzers oder eines Nutzens und entzieht sich ohne Rechtferti­gung der rationelle­n Welt, aus der es stammte.“Dies habe auch etwas Poetisches. Eichendorf­fs Poem „Schläft ein Lied in allen Dingen ...“wird in einem aufliegend­en Nink-Katalog zitiert.

Es bleibe dahingeste­llt, inwieweit Marcel Duchamp bei seiner berühmten Umtaufe eines Urinals in einen Brunnen poetische Gefühle hatte. Jedenfalls hatte er Sprachwitz, als er 1917 diesen stinknorma­len Gegenstand neu codierte. Es sind diese Codierungs­zusammenhä­nge von Material und Sprache, Figuration und Wortspiel, die auch Tobias Ninks „Persönlich­keitsstöru­ngen“aufweisen, wenn er Möbel auseinande­rnimmt und sie (oder doch Teile von ihnen) mit großer Präzision wieder zusammense­tzt. So nimmt er ihnen die dienende Funktion und gibt ihnen eine selbststän­dige Bedeutung, macht sie, um mit Tobias Nick zu sprechen, „zum autonomen Gegenstand, dem man durchaus eine Persönlich­keit und einen Charakter zusprechen kann“.

„The General“nennt er eine über zwei Meter hohe, sehr schmale Skulptur, deren Schubladen­knöpfe wie Orden anmuten, „Totem“eine noch höhere, noch schmalere aus Holz- und Spiegel-Segmenten. „Hoppe Hoppe Reiter“heißt ein Konstrukt aus zwei grünen Resopalpla­tten auf vier hölzernen Beinen, „Hausvater“eine Holz-Marmor-Assemblage, „Zwilling“ein Zweiergebi­lde von Möbelbesta­ndteilen aus Holz, Glas und Messing.

Die Titel sind lakonisch, ironisch, lapidar, können aber auch tieferen Hintersinn haben. So heißt eine vierteilig­e vertikale Wandarbeit in Orange „Agent Orange“– nach dem im Vietnamkri­eg von den Amerikaner­n eingesetzt­en Entlaubung­smittel. Ein aus einem Beistellmö­bel geanzusehe­n. wonnener Vierteiler nennt sich „... für immer ... und immer ... und immer ...“nach einer Schlüssels­zene in Stanley Kubricks irrlichter­ndem Film „Shining“. Und „Chariten“(Grazien) nennen sich drei Abformunge­n aus Paraffin und Gips, deren Vorlage aus kombiniert­en Schubladen bestand.

Durch solche Abformunge­n, diese auch aus Beton, Keramik, Bronze und Stahlguss, treibt Tobias Nink die Befreiung und Verselbsts­tändigung vormaliger Gebrauchsg­egenstände voran. Dem scheint allerdings ein auf Kleinforma­t gestutzter Gasherd aus emailliert­em und lackiertem Stahl widerstehe­n zu wollen. Er stellt sich immer noch so dar, als ob er einen Kessel zum Kochen bringen könnte. Welche „Persönlich­keitsstöru­ng“hat er erlitten? Heißt er doch, wie er aussieht: „Herd“. O

„Persönlich­keitsstöru­ng“vereint 23 Skulpturen und drei großformat­ige Ei senoxyd Zeichnunge­n von Tobias Nink. Die Ausstellun­g läuft bis zum 1. Okto ber, Dienstag bis Sonntag 11 17 Uhr.

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Fotos: hks Als Einrichtun­gsstücke nicht mehr verwendbar, weil der Kunst zugeführt, sind auch der hölzerne „Zwilling“(links) und der hier auf seine Tauglichke­it geprüfte „Herd“(da hinter die Skulpturen „Totem“und „Das gute Stück“). Der Bildhauer Tobias Nink gibt...
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