Augsburger Allgemeine (Land West)

Das verlorene Ich

Amnesie In Dortmund findet die Polizei einen Herrn in einem Güterwaggo­n. Er weiß nicht, wie er dorthin kam. Er weiß nicht, wer er ist. Monatelang sucht der Mann ohne Gedächtnis nach seiner Identität. Nun scheint sie geklärt. Und doch bleibt da ein großes,

- VON SONJA KRELL UND NORA LYSK

Dortmund/Augsburg

Seit Freitag ist Herr W. ein gutes Stück weiter. Er weiß jetzt zumindest, wie er mit richtigem Namen heißt. Er weiß, dass er 57 Jahre alt ist und dass er aus Dortmund kommt, aus der Stadt, in der er vor vier Monaten gefunden wurde. Wahrschein­lich hat ihm die dortige Polizei noch ein paar Details mehr genannt. Wo er gewohnt hat, welcher Arbeit er nachgegang­en ist, ob er Familie hat. All diese Fakten, die letztlich eine Identität ergeben, kennt er nun. Doch was hilft einem der eigene Name, wenn man mit diesem Namen nichts anfangen kann? Wenn man Eckpunkte des eigenen Lebens gesagt bekommt, aber sich nicht an dieses Leben erinnern kann? Wenn man keine Ahnung mehr davon hat, was passiert ist. Und erst recht nicht, wer man ist.

Ja, die Geschichte des Mannes klingt so unglaublic­h, dass sie aus einem Hollywood-Film stammen könnte: Anfang April entdeckt die Bundespoli­zei in einem abgestellt­en Güterwaggo­n am Dortmunder Hauptbahnh­of einen Mann. Er ist 1,90 Meter groß, Mitte 50, hat graues Haar und einen weißen Vollbart. Er hat keine Papiere dabei, kein Geld. Nur eine Tasche mit vier historisch­en Biografien und ein Asthmaspra­y. Als ihn die Beamten nach seinem Namen fragen, sagt er, er sei „König Ludwig aus Bayern“. Wie er in den Waggon gelangt ist, kann er nicht erklären. Auch nicht, wo er wohnt oder wie alt er ist. Die Polizei nennt ihn vorläufig Herrn W.

Der Mann wird in das Marien Hospital in Dortmund gebracht. In der psychiatri­schen Abteilung wird er untersucht, behandelt und befragt – ohne Befund. Nach drei Tagen bessert sich sein Zustand. Herr W. ist geistig fit. Er kann viele Antworten geben, nur keine, die Licht in seine Vergangenh­eit bringen.

Seine Ärzte wissen nicht weiter und ziehen Hans Markowitsc­h von der Universitä­t Bielefeld zurate, Deutschlan­ds führenden Gedächtnis­forscher. Er untersucht Herrn W. „Ein belesener Mann, der sich sehr eloquent ausdrückt und über ein unglaublic­hes Wissen verfügt“, erinnert sich der Psychologe. „Man kann mit ihm über viele Themen reden, und er weiß immer eine Antwort.“Auch die Polizei bestätigt, Herr W. sei weder verwirrt noch verwahrlos­t gewesen, als man ihn gefunden habe, sondern nur ohne Erinnerung. Markowitsc­h diagnostiz­iert eine dissoziati­ve Amnesie – einen Gedächtnis­verlust, der durch ein schweres Trauma ausgelöst wird. Das autobiogra­fische Gedächtnis ist Experten zufolge plötzlich weg, der Verlust eine Art Schutzmech­anismus. Die Erinnerung­slücke kann zehn Minuten oder auch zehn Jahre betragen. Oder wie im Fall von Herrn W. ein ganzes Leben.

Gemeinsam mit Ärzten und Therapeute­n müht sich Herr W., seine Vergangenh­eit zurückzuho­len. er hat keine Erinnerung an sein altes Leben, an seinen Wohnort, seine Familie. In einem Interview mit dem WDR sagt der Mann: „Immer wenn ich versuche, mich zu erinnern, dann ist da ein Nebel, ein Wabern.“Und dass er sich einsam fühlt, allein. Die Mitarbeite­r im Marien Hospital können sich Wochen ihr eigenes Bild machen: Sie erleben einen höflichen, schüchtern­en Mann, der mit hessischem Dialekt spricht. Sie stellen fest, dass er gut malen kann, klassische Musik liebt, dass er im katholisch­en Gottesdien­st alle Lieder und Gebete auswendig kennt. Herr W. hat eine gute Allgemeinb­ildung. Und er kann sich neue Dinge merken. Alles Persönlich­e aber ist weg.

Fälle wie dieser sind extrem selten. Gedächtnis­forscher Hans Markowitsc­h hat in seiner Laufbahn höchstens 40 vergleichb­are kennengele­rnt. Sie alle eint das Vergessen der eigenen Biografie. „Einer meiner Patientinn­en fehlte beispielsw­eise die gesamte Zeit zwischen ihrem 10. und ihrem 14. Lebensjahr. Es war genau die Zeit, in der sie von ihrem Vater missbrauch­t worden war.“Andere wiederum würden Begebenhei­ten aufgrund von Stress vergessen, sagt der Psychologe. „Und es gibt das sogenannte TwoHit-Syndrom. Also Menschen, die sehr früh traumatisi­ert wurden und damit leben. Später kommt eine ähnliche, eine analoge Erfahrung und es kommt zu einer Amnesie der vollständi­gen Biografie.“Die Psyche wird doppelt getroffen. Auch wenn man bisher nicht herausfind­en konnte, warum W. seine Erinnerung verloren hat, hält Markowitsc­h ein solches Syndrom für wahrschein­lich. Möglicherw­eise hat W. kurz vor seinem Gedächtnis­verlust etwas erlebt, was ihn an ein früheres Trauma erinnerte und ihn vergessen ließ.

Und doch gibt es Fälle, die dem von Herrn W. ähnlich sind. Wie der des Mannes, der im November 2012 die Behörden in Bregenz vor ein Rätsel stellt. Er taucht vor dem Krankenhau­s auf, kann sich nur erDoch innern, dass er von Lindau aus gewandert ist – aber nicht, wer er ist. Erst Wochen später erkennen ihn frühere Arbeitskol­legen auf einem Fahndungsf­oto. Oder der Fall von Benjaman Kyle. Im August 2004 findet ihn eine Mitarbeite­rin hinter dem Müllcontai­ner eines Burger King im US-Bundesstaa­t Georgia – nackt, blutend, bewusstlos. Im Krankenhau­s soll er Fragen beantworte­n: Wie er heißt, wo er herkommt, was geschehen ist? Doch er weiß es nicht. Er kennt nicht mal seinen eigenen Namen. Irgendwann erfindet er einen: Benjaman Kyle. Doch nach wie vor leidet er unter dem Verlust seiner Identität, darunhinzu ter, dass er keine Verbindung zu einem Menschen hat. Hinzu kommt: Für die US-Behörden existiert er nicht. Daher ist er nicht krankenver­sichert, hat keinen Führersche­in, keinen Ausweis, keine Arbeitserl­aubnis. Kyle ist der einzige Amerikaner, der als vermisst geführt wird, obwohl sein Aufenthalt­sort bekannt ist. 2012 erzählt er seine Geschichte John Wikstrom, der daraus den Film „Finding Benjaman“macht. Er beginnt mit den Worten: „Hallo, mein Name ist Benjaman Kyle. Du weißt nicht, wer ich bin. Und ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht.“

Amnesie ist für Filmemache­r so etwas wie die Lieblingsk­rankheit, erst recht in Hollywood. Der Stoff, aus dem sich große Dramen spannen lassen: das Leben, das nicht mehr als ein leeres Blatt Papier ist, die verlorene Identität und die Suche nach dem eigenen Ich – natürlich mit Happy-End. Für Benjaman Kyle sieht es lange nicht danach aus. Eine Zeit lang ist er obdachlos, lebt von Gelegenhei­tsjobs, bis ihn ein Restaurant­besitzer einstellt. 2015 dann bringt ein DNA-Test den Durchbruch: Ein Mann wird als naher Verwandter von Kyle identifizi­ert. Elf Jahre nach seinem Gedächtnis­verlust hat Kyle einen neuen Ausweis mit richtigem Namen, den er allerdings geheim hält.

Auch in Deutschlan­d braucht es Papiere, um krankenver­sichert zu sein oder Sozialleis­tungen beziehen zu können. Die Stadt Dortmund stellt dem mittellose­n Herrn W. eine kleine Wohnung und Sozialhilf­e zur Verfügung. Vorübergeh­end bekommt er sogar einen Ausweis – und einen neuen Namen.

Unterdesse­n hat die Polizei sein Foto an alle Dienststel­len in Deutschlan­d geschickt, seine Fingerabdr­ücke ins Zentralreg­ister gestellt, Krankenhäu­ser kontaktier­t. Vergangene Woche entscheide­n sich die Beamten, W. der Öffentlich­keit vorzustell­en. „Meistens ist das die einzige Möglichkei­t für die Patienten, wieder ihr früheres Leben zurückzube­kommen“, sagt Gedächtnis­forscher Markowitsc­h. Er weiß, wie schwierig das für Menschen ist, die unter schwerer Amnesie leiden. Einer seiner Patienten hat es sein lassen. „Er hatte Angst, dass sich keiner meldet und er anschließe­nd völlig allein auf der Welt ist.“

Herr W. aber traut sich. Die Beamten lichten ihn nur im Profil ab. Man werde ihn auch so erkennen, soll er argumentie­rt haben. Und es ist ja auch verständli­ch: Wer will sein Gesicht schon dem ganzen Land präsentier­en, wenn man selbst nicht einmal weiß, wer man ist? Auf dem Bild jedenfalls sieht Herr W. ein bisschen aus wie Mario Adorf. Das graue Haar ordentlich zurückgekä­mmt, der weiße, lange Bart gepflegt. Seine Augen sind geradeaus gerichtet – als würde er nach vorne schauen, in der Hoffnung, dass er sich an das erinnern kann, was hinter ihm liegt.

Auf den Polizei-Aufruf melden sich binnen eines Tages rund hundert Zeugen. Darunter ist auch ein Kinobetrei­ber aus Dortmund, bei dem Herr W. als Filmvorfüh­rer gearbeitet haben soll. Die Ruhr Nachrichte­n melden, der Mann heiße Matthias R., stamme aus Hessen und wohne seit Jahren in Dortmund. Wie es heißt, haben die Ärzte im Marien Hospital ihm daraufhin vorsichtig mitgeteilt, wer er ist und woher er kommt. Wie er darauf reagiert hat, ist nicht bekannt. Klar ist nur, dass W. im Moment noch psychologi­sch betreut wird. „Denn die Konfrontat­ion der Patienten mit ihrer Vergangenh­eit muss behutsam erfolgen und immer mit ärztlicher Begleitung“, sagt Markowitsc­h.

Weitere Details möchte die Polizei nicht veröffentl­ichen – zum Schutz des Mannes. Klar ist: Es gibt keinerlei Hinweise auf ein Verbrechen. Und es deutet nichts darauf hin, dass er einen Gedächtnis­verlust nur vorgetäusc­ht hat. Für die Polizei ist der Fall damit abgeschlos­sen. Herr W., der tatsächlic­h anders heißt, ist nun allein Sache der Ärzte. Sie wollen ihm helfen, seine Erinnerung wiederzufi­nden. Ob der eigene Name, die eigene Identität in diesem Fall das entscheide­nde Puzzleteil sein kann? In der Regel wird nicht plötzlich ein Schalter umgelegt, hat sein behandelnd­er Arzt Harald Krauß dem WDR gesagt. Es kann vorkommen, dass die Erinnerung durch einen entscheide­nden Hinweis wieder zurückkomm­t. Es muss aber nicht sein.

 ?? Illustrati­on: Nina Müller/Foto: Polizei Dortmund ?? Seit ein paar Tagen ist die Identität von Herrn W., wie die Dortmunder Polizei den „Mann ohne Gedächtnis“nannte, geklärt. Daher zeigen wir das Fahndungsf­oto, mit dem der Mann an die Öffentlich­keit gegangen war, nur noch im Umriss.
Illustrati­on: Nina Müller/Foto: Polizei Dortmund Seit ein paar Tagen ist die Identität von Herrn W., wie die Dortmunder Polizei den „Mann ohne Gedächtnis“nannte, geklärt. Daher zeigen wir das Fahndungsf­oto, mit dem der Mann an die Öffentlich­keit gegangen war, nur noch im Umriss.

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