Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Schweiz lässt sich beim Atomausstieg Zeit
Energie Irgendwann sollen die alten Meiler vom Netz gehen. Es gäbe eine gute Alternative, doch die könnte bald versiegen
Die Schweiz geht die Energiewende an. Im Frühjahr beschlossen die Schweizer bei einer Volksabstimmung mit fast 60 Prozent Zustimmung den Atomausstieg. Künftig soll der Strom aus erneuerbaren Energiequellen kommen. Wann die fünf Nuklearmeiler vom Netz gehen, ist aber noch offen. Die Schweiz beschloss bisher nur, dass ab 2018 keine weiteren Atomkraftwerke gebaut werden dürfen. „Die Atomkraft ist ein Auslaufmodell“, betonte Bundespräsidentin Doris Leuthard. „Aber wir brauchen Zeit, um sie mit heimischer, sauberer Energie zu ersetzen.“
Der Atomkritiker Rudolf Rechsteiner, Ökonom und Dozent für erneuerbare Energien an der ETH Zürich, hätte den Komplettausstieg gern so früh wie möglich. „Die Schweiz kann alle Atomkraftwerke jederzeit abstellen, ohne dass die Versorgungssicherheit gefährdet ist“, schrieb er in einer Studie. Es sei über eine Dauer von 15 Jahren fast 10 Milliarden Euro teurer, die alten Anlagen weiterlaufen zu lassen als den ausfallenden Strom am Markt zuzukaufen. So funktioniere das in der Schweiz nicht, sagt Rolf Wüstenhagen, Professor für das Management erneuerbarer Energien an Universität St. Gallen. „Hier wurde immer wieder abgestimmt, um sich langsam auf einen Kompromiss zu einigen.“
Anders als Deutschland oder Spanien vor ihren Atomausstiegen ist die Schweiz in einer komfortablen Situation. Denn sie deckt schon knapp 60 Prozent ihres Strombedarfs aus Wasserkraft. Rund ein Drittel kommt nach Angaben des Bundesamtes für Energie aus der Atomkraft. Dafür sind jetzt Alternativen nötig. Umgerechnet steckt die Schweiz nun 422 Millionen Euro Fördermittel in den Ausbau der Erneuerbaren, ein Drittel davon geht in die Wasserkraft.
Für diese Energiequelle hat die Schweiz ideale Voraussetzungen. In den Alpen gibt es häufige Niederschläge, Schmelzwasser aus Gletder schern und starke Gefälle. Es sind bereits 643 Wasserkraftwerke mit einer Leistung von jeweils mehr als 300 Kilowatt in Betrieb. Das Potenzial der Wasserkraft sei allerdings in höher gelegenen Alpenregionen durch das langfristige Schmelzen der Gletscher gefährdet, warnen Forscher der Universität Bern. Denn auf lange Sicht könnte dort weniger Schnee und Eis liegen – und damit auch weniger Schmelzwasser für die Kraftwerke vorhanden sein. Laut einer Untersuchung der Universität sollen bis 2100 viele Gletscher verschwunden sein. Nach ihrer Prognose sind dann nur noch rund 25 Prozent der heutigen Fläche und des heutigen Volumens der Gletscher vorhanden. Die Folgen lassen sich schon heute berechnen. Etwa am Kraftwerk des Stausees Mattmark im Kanton Wallis. Forscher rechnen dort mit einem Rückgang der Stromproduktion um 30 Prozent bis zum Ende des Jahrhunderts. Das Kraftwerk bezieht Wasser aus sieben Gletschern. Es produziert im Jahr 607,5 Millionen Kilowattstunden.
Verlierer der Abstimmung sind die Betreiber der Atomkraftwerke. Aber wirtschaftliche Faktoren hätten sie früher oder später in die Knie gezwungen, meint Wüstenhagen. Denn der Strom sei dort viel teurer als am Markt üblich. Im Kraftwerk Leibstadt nahe der deutschen Grenze bei Waldshut-Tiengen (BadenWürttemberg) etwa lagen die Kosten pro Kilowattstunde Strom in den vergangenen zehn Jahren bei durchschnittlich fünf Cent. Auf dem Markt kostete der Strom nur knapp vier Cent.