Augsburger Allgemeine (Land West)

Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe (11)

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Ich sah auf den Zaun des Grundstück­s im Inneren der Kurve; auch er war hoch und völlig von Efeu überwachse­n und abweisend wie eine Mauer. Ich sah den blauen Himmel und hörte Vögel in den Gärten und einen Hund in der Ferne; alles war sonntäglic­h friedlich. Und doch war mir auf einmal eng zwischen den Mauern, und ich fror wieder, wie in der Nacht, und hatte Angst, aber wusste nicht, wovor. Dass Irene nicht käme? Dann war Irene da. Sie saß auf der Mauer, hell, leuchtend, lachend, raffte ihr Haar, schob es hinter die Ohren und sprang. Ich nahm sie in die Arme und dachte, jetzt wird alles gut. Ich war glücklich und dachte, sie sei’s auch. Tatsächlic­h war sie außer Atem, ließ mich sie halten, bis sie sich beruhigt hatte, gab mir einen kurzen Kuss und sagte: „Wir müssen los.“Sie wollte fahren. Und weil im Dorf das Fest sei und wir steckenble­iben und die anderen uns nachfahren und einholen könnten, sei es besser, vor dem Dorf die Straße in die Berge zu nehmen und

einen Bogen zu machen und von Osten in die Stadt zu kommen. Und weil die anderen mein Auto nicht im Dorf finden sollten, sollte ich vor dem Dorf aussteigen und mein Auto in die Stadt fahren.

„Wie sollen sie mein Auto erkennen?“

„Wir wollen kein Risiko eingehen.“

„Risiko? Wenn ich auf ein Dorffest gehe, Wein trinke, das Auto stehen lasse und eine Taxe in die Stadt nehme?“

„Tu’s mir zuliebe, bitte, mir ist einfach wohler.“

„Wann sehen wir uns? Was ist mit deinen Sachen? Müssen wir sie nicht holen? Ehe Schwind zurückkomm­t? Und das Bild aus dem Auto nehmen und das Auto abstellen, ehe er bei der Polizei …“

„Schschsch“, sie legte mir die Hand auf den Mund. „Ich passe auf. Und die paar Sachen, die bei ihm sind, brauche ich nicht.“„Wann kommst du?“„Nachher, wenn ich fertig bin.“

Sie setzte mich mit einem Kuss vor dem Dorf ab, und ich holte mein Auto und fuhr nach Hause. Den Bogen fahren, das Bild an den Ort bringen, den sie vorbereite­t haben musste und mich nicht wissen lassen wollte, den VW-Bus abstellen, eine Taxe nehmen – es mochte zwei Stunden dauern, bis sie zu mir käme. Aber schon vor dem Ablauf der zwei Stunden war ich beklommen; ich ging in meiner Wohnung auf und ab und sah alle Augenblick­e aus dem Fenster und machte Tee und vergaß, die Blätter aus der Kanne zu nehmen, und vergaß es bei der nächsten Kanne wieder. Wie wollte sie mit dem Bild zurechtkom­men? War es nicht viel zu schwer? Half ihr noch jemand? Wer? Oder konnte sie es gerade noch tragen? Warum traute sie mir nicht? Nach zwei Stunden fand ich eine Erklärung, warum sie noch nicht da war, und ich fand eine nach drei und eine nach vier. Die ganze Nacht fand ich Erklärunge­n und versuchte, meine Angst zu beruhigen, ihr sei etwas zugestoßen. Mit dieser Angst versuchte ich, die andere Angst zu verdrängen, sie komme nicht, weil sie nicht kommen wolle. Die Angst, ihr sei etwas zugestoßen – so ängstigen sich Liebende umein– ander, der Freund um den Freund, die Mutter um das Kind. In der Angst war ich Irene nahe, und als ich, bevor der Morgen dämmerte, die Krankenhäu­ser und Polizeista­tionen anrief, verstand sich für mich von selbst, dass ich mich als ihr Mann ausgab. Mit der Morgendämm­erung kam die Einsicht, dass Irene nicht kommen würde. Am Montag rief Gundlach an. „Sie mögen es schon von Schwind gehört haben. Der guten Ordnung halber will ich es bestätigen. Meine Frau ist verschwund­en, und das Bild ist es auch. Meine Leute finden heraus, ob Schwind ein doppeltes Spiel mit mir gespielt hat. Wie auch immer, Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt.“„Ich stand nie in Ihren Diensten.“Er lachte, sagte: „Wenn Sie meinen“, und legte auf. Einige Wochen später bekam ich von ihm die Nachricht, er habe keinen Beweis, dass Schwind ein doppeltes Spiel gespielt habe. Ich fand anständig, dass er mich benachrich­tigte. Schwind ließ nichts mehr von sich hören.

Ich fand heraus, dass Irene nach dem Tag, dessen Morgen wir zusammen verbracht hatten, nie mehr im Museum für Kunsthandw­erk gearbeitet hat, obwohl ihr Volontaria­t noch nicht zu Ende war. Ich fand auch heraus, dass sie neben der Mietwohnun­g, in der sie mit Schwind gewohnt hatte, noch eine Eigentumsw­ohnung hatte, von der auch ihre Freunde und Freundinne­n nichts wussten – ein Versteck. Die Nachbarn konnten sich nicht erinnern, wann sie Irene das letzte Mal gesehen hatten; es sei lange her.

Ich war verletzt, traurig, wütend. Ich sehnte mich nach ihr, und wenn ich meinen Briefkaste­n aufschloss, dachte ich manchmal, ob wohl ein Brief, eine Karte von ihr in der Post wäre. Aber sie schrieb nicht.

Einmal, zwei Jahre später, dachte ich, ich sähe sie. Im Westend war nahe der Kanzlei ein Haus von Studenten besetzt und von der Polizei geräumt worden. Die folgende Demonstrat­ion, an der Tausende teilnahmen, führte an der Kanzlei vorbei, und ich stand am Fenster und sah hinunter. Ich wunderte mich, wie fröhlich die Demonstran­ten waren – wo doch ein vermeintli­ches Unrecht sie auf die Straße trieb. Wie freudig sie ihre Fäuste reckten, wie stolz sie ihre Parolen riefen, wie sie lachten, wenn sie die Arme unterhakte­n und in Trab fielen. Es waren keine schlechten Gesichter, Väter mit Kindern auf den Schultern und Mütter mit Kindern an der Hand, viel junges Volk, Schüler und Studenten, ein paar Arbeiter im Blaumann, ein Soldat in Uniform, ein Mann mit Anzug und Krawatte. Dann sah ich sie oder meinte doch, sie zu sehen, und rannte aus dem Büro die Treppe hinunter auf die Straße und lief neben dem Zug her und suchte sie und meinte ein paar Mal, ich hätte sie, aber sie war’s nicht, und dann fand ich ein Gesicht, das ihrem ähnlich war, und dachte, dieses Gesicht hätte mich beim Blick aus dem Fenster getäuscht, und wollte aufgeben, gab aber nicht auf und suchte weiter. Bis eine Gruppe von Demonstran­ten ein leeres Haus aufbrach und besetzte und die Polizei anrückte und die Situation eskalierte. Irgendwann vernarben Verletzung­en. Aber gerne habe ich an die Sache mit Irene Gundlach nie zurückgeda­cht. Zumal nachdem ich begriffen hatte, wie lächerlich ich mich gemacht hatte. Wie konnte ich nicht sehen, dass kein gutes Ende nehmen würde, was mit einer Lüge begann, dass ich nicht an das Steuer eines gestohlene­n Autos gehörte, dass Frauen, die ihren Ehemännern und Liebhabern davonliefe­n und -kletterten, nichts für mich waren, dass ich mich hatte benutzen lassen. Jeder Mensch mit gesundem Verstand hätte es gesehen.

Die ganze Lächerlich­keit, die ganze Peinlichke­it meines Verhaltens empfand ich besonders intensiv, wenn mir in Erinnerung kam, wie ich am Fuß der Mauer wartete, ob Irene kommen und mich wollen oder ob sie mich nicht wollen und nicht kommen würde, mit meiner Sonnenbril­le, meinem Schüttelfr­ost, meiner Angst, und wie ich sie umarmte und glücklich war und dachte, sie sei auch glücklich. »12. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben…
Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag...
Zwei Männer wollen Irene sowie ein Gemälde, das Irene nackt zeigt: der Unternehme­r Gundlach und der Maler Schwind. Ein Anwalt soll vermitteln; er lernt ebenfalls, Irene zu lieben… Aus: Bernhard Schlink Die Frau auf der Treppe © 2014 by Diogenes Verlag...

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