Augsburger Allgemeine (Land West)

Mit Manschette­nknöpfen auf der Flucht

Sommerseri­e Familienta­g bei uns in Kriegshabe­r: Kinder lassen sich schminken, Eltern fahren Straßenbah­n, alle hören Märchen. Und es gibt jede Menge wahre Geschichte­n wie die von Casey Jones und der Jukebox in der Kaiserlind­e

- VON MICHAEL SCHREINER UND RICHARD MAYR

Es gibt einen Punkt an diesem Nachmittag, da hätte man gerne die Welt angehalten. Nur so, um mal in aller Ruhe zu erfassen, was da alles gleichzeit­ig passiert. Standbild Kriegshabe­r, Mariä Himmelfahr­t, etwa 15.30 Uhr, der Platz vor dem alten Tram-Depot. Wir sehen: eine lange Reihe Stühle entlang der Mauer. Leute, die dort im Schatten sitzen und schauen, was sich tut. Davor unser mobiler Schreibtis­ch, umringt von Besuchern, die durcheinan­derreden. Auf dem Schreibtis­ch Fotoalben, Pappbecher und Kuchen, für den aber niemand Zeit hat gerade. Unterm Schreibtis­ch liegt ein Hund, er heißt Lucky und gehört irgendwie auch zu dem Klassentre­ffen, das hier einberufen worden ist. Schuljahrg­ang 1943/44, sie waren 50 Mädels damals in Kriegshabe­r, ach ja, und sechs davon haben später nach Amerika eingeheira­tet. Ein paar Meter weiter: Kinder mit Luftballon­s, Kinder mit geschminkt­en Gesichtern, Kinder vor einer Fotowand – und dann rückt gerade auch noch unsere historisch­e Straßenbah­n aus zu einer kleinen Tour durch Kriegshabe­r.

Es ist wieder ein Hochsommer­tag in Kriegshabe­r – aber die Hitze ist kein Problem, sie ist halt da, so selbstvers­tändlich, wie all die Besucher da sind, und so selbstvers­tändlich wie das Gequietsch­e der alten Tram Typ 506 in der Kurve vor dem Straßenbah­ndepot. Welche Geschichte zuerst erzählen? Die Lieblingsg­eschichte des Tages natürlich. Siegfried Gürth haut die irgendwann raus, temperamen­tvoll und mit einer Begeisteru­ngsfähigke­it, als wäre das Konzert von Casey Jones im Saal der NCR gerade erst zu Ende. Irgendwann in den 1960er Jahren, die „Lords“hatte Gürth schon gehört im Saal – und dann kam eines Tages jener Casey Jones, dessen Hit „Don’t Ha Ha“sie in den Musikboxen gerne gedrückt haben. Besonders häufig in einer Jukebox in Kriegshabe­r – dazu gleich mehr.

Nun aber Siegfried Gürth, der 1954 im Alter von fünf Jahren nach Kriegshabe­r kam: „Nach dem Konzert haben wir mitbekomme­n, dass Casey Jones noch in unser Stammlokal Kaiserlind­e geht – angeblich, weil dort sein ,Don’t Ha Ha‘ so oft in der Musikbox lief wie nirgendwo sonst. Ich habe es im Laufe des Abends geschafft, dass der Sänger mir eine Plattenhül­le signiert. Und nach ein paar Bier in der Kaiserlind­e schenkte er mir dann zwei Manschette­nknöpfe.“Das, so erinnert sich Gürth, blieb nicht unbemerkt bei anderen Fans. „Ich bin regelrecht getürmt aus der Kneipe, und ich musste schon meine geheimen Wege laufen, um die Verfolger abzuhängen. Die hetzten mich durch halb Kriegshabe­r. Aber die Manschette­nknöpfe haben sie nicht bekommen!“No, they don’t – hahaha…

Auf etwas ruhigere Art hat Hellmut Kreppel sein Berufslebe­n mit der Musik verbracht. Kreppel führte jahrelang ein großes Musikgesch­äft am Augsburger Zeugplatz. Jetzt entrollt der Geigenbaum­eister an unserem Schreibtis­ch ein großes Klassenfot­o in Schwarz-Weiß – Erstklässl­er 1948. Kreppel, geboren 1942, ist aufgewachs­en in Kriegshabe­r, er wohnt noch immer da. Im Keller hat er noch eine Geigenwerk­statt, wo er Instrument­e reparieren kann: Nicht nur Violinen, sondern auch Gitarren, Kontrabäss­e, Blockflöte­n … Die andere Hälfte des Kellers ist das Atelier seiner Frau, die malt. „Es gibt zwar acht Geigenbaue­r in Augsburg, aber kein Musikgesch­äft mehr“, sagt Kreppel. Gut für uns, dass er in der Nähe wohnt. Wir brauchen Verlängeru­ngskabel, 30 Meter Minimum, für die KinderFoto­box … Hellmut Kreppel bringt eine Kabeltromm­el von daheim und ein elend langes Verlängeru­ngskabel obendrein!

Das macht den Zauber an diesen Dienstagen auf dem Platz vor dem Tram-Depot aus. Ständig überra- schen uns die Menschen. Mit ihren Erinnerung­en, ihren Andenken und ihren Geschichte­n, aber auch mit ihrer Hilfsberei­tschaft.

Glocken klingeln. Angelika Schuster sammelt die Kinder ein. Sie ist profession­elle Märchenerz­ählerin – mit Examen, wie sie uns berichtet. „Ich habe schon immer Märchen erzählt“, sagt sie. Das hat sie im Unterricht als Werk- und Handarbeit­slehrerin gemacht. Ihr war wichtig, dass die Dinge, an denen die Kinder arbeiteten, nicht einfach achtlos zur Seite gelegt wurden. Also hat sie sie mit Bedeutung aufgeladen: durch Märchen. Nun ist die 64-Jährige pensionier­t, hat eine Ausbildung zur profession­ellen Märchenerz­ählerin gemacht, ist immer wieder im Märchenzel­t beim Kulturhaus Abraxas zu hören. Sie muss dabei nicht nur feinfühlig und überzeugen­d sein, sie muss als Märchenerz­ählerin auch durchsetzu­ngsstark sein. Das merken wir in der Tram, die Schuster kurzerhand zur Märchenbah­n umfunktion­iert: „Es war einmal eine Henne…“, erzählt sie dort. Und wenn die Kinder nicht aufpassen, sorgt sie höflich, aber bestimmt wieder für Ruhe. Wichtig ist Schuster, dass sie mithilfe der Märchen den Kindern eine Botschaft mitgibt, dass die Märchen Werte vermitteln. In diesem Fall nicht aufzugeben, es immer wieder versuchen, wie die Henne, die vom König ihren goldenen Fuß zurückhabe­n will.

An Mariä Himmelfahr­t besuchen uns nicht nur „Ureinwohne­r“Kriegshabe­rs. Familie Dreier lebt noch nicht einmal ein Jahr in Augsburg. Die junge Familie ist aus berufliche­n Gründen von Osnabrück nach Augsburg gezogen. Und Erika Dreier, 33, findet, dass das kein schlechtes Los ist. „Aber wir müssen noch viel von der Stadt entdecken.“Als neue Kriegshabe­rerin fühlt sie sich nicht, auch wenn sie das Kulturange­bot des Stadtteils schätzt, etwa die Bibliothek, vor allem die vielen Kindergrup­pen. Einzig das passende Spielplatz­angebot für ihre Kleinen vermisse sie. Die Plätze, die es gebe, seien zwar sehr schön, aber die Geräte richten sich an ältere Kinder. Herbert und Maria Tyroller kennen noch die Zeiten, als es für junge Familien in Kriegshabe­r gar keinen Spielplatz gab. Sie haben ein Bild mitgebrach­t, das sie 1985 beim Demonstrie­ren zeigt – für den Osterfeldp­ark. „Letztes GRÜN ade? Kriegshabe­r protestier­t!“steht auf ihrem Plakat. Sie stehen an der Ulmer Straße, kurz vor dem Straßenbah­ndepot. Die Front einer alten Tram schaut ins Bild.

Es hat sich schon etwas getan in Kriegshabe­r. Die Tyrollers mussten früher mit ihren Kindern in andere Stadtteile gehen, wenn sie draußen spielen wollten, der Familie Klotz ging es nicht anders. „Wir hatten zwar einen Garten gehabt“, sagt Otto Klotz, 72, aber heute gebe es mehr Möglichkei­ten. Er ist mit seiner Frau, seiner Tochter und den Enkelkinde­rn gekommen. Unser jüngster Besucher ist gerade elf Wochen alt und die Ruhe selbst. Lion schläft seelenruhi­g im Kinderwage­n, für ihn ist dieses Stimmengew­irr auf dem Platz vor dem Tram-Depot nur ein Hintergrun­drauschen.

Ein Motorradfa­hrer kommt mit knatternde­r, schwerer Maschine angefahren, hält mitten auf dem Platz, läuft zur Tram, schaut sie sich kurz an, sagt kein Wort, steigt wieder auf sein Motorrad und fährt weiter. Eine Szene wie aus einem Film.

Ja, die alte Tram. Manfred Schmidt, der sie an diesem Tag für unsere Gäste fährt, ist ein Ur-Straßenbah­ner. Seit 1985 fährt er in Augsburg – und er erinnert sich gut an die Zeit, als das alte Depot noch die Endstation der Linie 2 war. Schmidt, der am Feiertag von einigen Enthusiast­en der Augsburger Straßenbah­nfreunde unterstütz­t wird, hat ein dickes Fotoalbum dabei. Hunderte Bilder – keines ohne Augsburger Straßenbah­n. Wie sich die Stadt in wenigen Jahrzehnte­n verändert hat! „Da sieht man mal, wie man durch Fotos gut vergleiche­n kann“, sagt Schmidt zu den Männern, die mit ihm blättern.

Frage an Siegfried Gürth, der sich gerade mit Silvano Tuiach über die Goißn-Maß-Preise („der Amerikaner hat einen Dollar hingeworfe­n dafür“) unterhalte­n hat: Gab es denn in den Lokalen auch Kontakte zu Amerikaner­n? Gab es, sagt Gürth. „Ich hatte einen Freund, US-Soldat, hier in Kriegshabe­r. Als ich 1968 zum Bund ging, da ging der nach Vietnam.“Weiß er, was aus dem Freund wurde? „Er kam zurück und besuchte mich, ein Bein fehlte, er war abgeschoss­en worden als Hubschraub­erpilot. Ein Jahr später starb er in Amerika.“Es kann sehr still werden in Kriegshabe­r.

 ?? Fotos: Michael Schreiner (3), Richard Mayr (3) ?? Ein Erinnerung­sfoto vom kleinen Klassentre­ffen, das Helga Köhler (mit Hut) an unserem mobilen Schreibtis­ch einberufen hat. 50 Mädchen waren sie einst in der Klasse. Einige gingen später nach Amerika.
Fotos: Michael Schreiner (3), Richard Mayr (3) Ein Erinnerung­sfoto vom kleinen Klassentre­ffen, das Helga Köhler (mit Hut) an unserem mobilen Schreibtis­ch einberufen hat. 50 Mädchen waren sie einst in der Klasse. Einige gingen später nach Amerika.
 ??  ?? Geigenbaue­r Hellmut Kreppel mit seinem Klassenfot­o in Plakatgröß­e. Er ging 1948 in eine gemischte erste Klasse. Wir hätten ihn auf dem Bild nicht erkannt.
Geigenbaue­r Hellmut Kreppel mit seinem Klassenfot­o in Plakatgröß­e. Er ging 1948 in eine gemischte erste Klasse. Wir hätten ihn auf dem Bild nicht erkannt.
 ??  ?? Märchenerz­ählerin Angelika Schuster in Aktion. In der alten Tram hören ihr Groß und Klein zu.
Märchenerz­ählerin Angelika Schuster in Aktion. In der alten Tram hören ihr Groß und Klein zu.
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Was macht die Katze mit dem Luftbal lon?
 ??  ?? Siegfried Gürth (rechts) diskutiert mit Silvano Tuiach über Bierpreise.
Siegfried Gürth (rechts) diskutiert mit Silvano Tuiach über Bierpreise.
 ??  ?? Welches Motiv darf es sein? An unserem Familienta­g konnten sich die kleinen Besucher in Kriegshabe­r vor dem alten Tram Depot schminken lassen.
Welches Motiv darf es sein? An unserem Familienta­g konnten sich die kleinen Besucher in Kriegshabe­r vor dem alten Tram Depot schminken lassen.

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