Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Lehren der Krawalle von Rostock gelten bis heute
Debatte Vor 25 Jahren begannen im Stadtteil Lichtenhagen die ausländerfeindlichen Übergriffe auf ein Wohnheim. Viel ist seitdem geschehen. Warum sich das dennoch jederzeit an einem anderen Ort wiederholen kann
Die Wiese vor dem Sonnenblumenhaus im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen gibt es schon lange nicht mehr. Auf dem Areal vor dem elfstöckigen Plattenbau locken ein Bau-, ein Super- und ein Drogeriemarkt sowie Filialen der Post und der Sparkasse die Kunden an.
Das Leben pulsiert. Und doch kann das neue Stadtteilzentrum die Erinnerung an die brutalen Szenen nicht tilgen, die sich vor einem Vierteljahrhundert an genau dieser Stelle abgespielt haben. Mehr als 3000 Menschen versammelten sich am 22. August 1992 vor der zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber des Landes MecklenburgVorpommern. Erst skandierten sie nur „Ausländer raus“, doch dann schaukelte sich der Protest hoch und eskalierte.
Fensterscheiben wurden eingeworfen, Molotow-Cocktails geworfen – und am 24. August das Nachbarhaus, in dem vietnamesische Vertragsarbeiter wohnten, unter dem Beifall von Gaffern angezündet. Rasch breiteten sich die Flammen aus, in letzter Sekunde retteten sich 150 Menschen auf das Dach. Wie durch ein Wunder kam niemand ums Leben.
Die Bilder gingen um die Welt. Gerade einmal 22 Monate nach dem Jubel über die friedliche Wiedervereinigung zeigten sie allerdings ein Bild von Deutschland, das schlimmer nicht sein konnte: Menschen, die ihrem Hass gegen Ausländer freie Fahrt ließen und den Tod Unschuldiger billigend in Mölln oder Solingen zu ausländerfeindlichen Anschlägen kam, bei denen sogar Menschen starben. Es entstanden zahlreiche lokale Initiativen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit, Bund und Länder finanzierten Programme, um für ein friedliches Zusammenleben und gegenseitige Akzeptanz zu werben. Mit Erfolg.
Dennoch. Unverändert sind in der Gesellschaft Intoleranz und Rassismus weitverbreitet, in Internet-Foren wie in der Öffentlichkeit wird laut und offen gegen Andersdenkende, Andersaussehende und Andersgläubige gehetzt. Den Worten folgen Taten – wie einst in Rostock-Lichtenhagen. Seit der Flüchtlingskrise 2015 vervielfachten sich nach offiziellen Angaben des BKA und des Verfassungsschutzes die Gewalttaten gegen Flüchtlinge und Asylbewerber, allein im vergangenen Jahr gab es fast 1000 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte sowie mehr als 2500 Straftaten gegen Flüchtlinge. Das BKA warnte im August 2016, es gebe ein „bedrohliches Ausmaß an rechter Gewalt“. Mehr noch, BKA-Chef Holger Münch warf der AfD in diesem Zusammenhang vor, die Fremdenfeindlichkeit „salonfähig“gemacht zu haben. Die Partei biete den ideologischen Nährboden „für die rechte Hetze auch im Netz“und verleihe ihr einen legalen Anstrich.
So ist Rostock-Lichtenhagen weder Geschichte noch eine Ausnahme in einer Extremsituation. Weil das Gedankengut wie die Gewaltbereitschaft unverändert vorhanden sind und nur durch eine dünne Schicht aus Humanität und Zivilisation in Zaum gehalten werden, kann sich das, was sich vor 25 Jahren an der Ostseeküste ereignet hat, zu jeder Zeit an einem anderen Ort der Republik wiederholen. Akzeptanz und Toleranz gegenüber Minderheiten sind keine Selbstverständlichkeit, sondern müssen stets aufs Neue gelebt werden – das ist die Lehre von Rostock-Lichtenhagen.