Augsburger Allgemeine (Land West)

Mit Willenskra­ft und taktischen Finessen

Leichtathl­etik Wie die U-18-Mädchen der SpVgg Auerbach/Streitheim mit dem deutschen Meistertit­el für eine Sensation sorgen

- VON JOHANN KOHLER

1954 fand das „Wunder von Bern“im Fußball statt. Für die U-18-Leichtathl­etinnen der SpVgg Auerbach/Streitheim gab es nun das „Wunder von Bernhausen“. Bei den deutschen Mehrkampfm­eisterscha­ften in der kleinen Stadt in der Nähe des Stuttgarte­r Flughafens sorgten sie für eine Sensation. Mit einer Willenskra­ft, die ihresgleic­hen sucht, sicherten sich drei Mädchen aus dem Landkreis Augsburg, Angela Stockert (17, aus Aystetten), Sophia Müller (17, aus Deubach) und Emily Schuster (16, aus AdelsriedK­ruichen), die deutsche Mannschaft­smeistersc­haft im Siebenkamp­f mit neuem bayerische­n Rekord von 14960 Punkten. Zudem holte sich Angela Stockert noch die Vizemeiste­rschaft in der Einzelwert­ung.

54 der besten Leichtathl­etinnen Deutschlan­ds im Alter von 16 und 17 Jahren hatten die hohen Qualifikat­ionshürden geschafft. Unter ihnen auch die Weltmeiste­rin Johanna Siebler (LC Überlingen) und die WM-Vierte Marshella Foreshaw (Königstein­er LV), die vor einem Monat noch bei den Welttitelk­ämpfen in Nairobi (Kenia) Deutschlan­d vertraten. Während die Weltspitze unter der Sonne Afrikas um Medaillen kämpften, war in dieser Zeit für die Auerbacher Athletinne­n das Rothtalsta­dion in Horgau die Heimstätte. Täglich rund zwei Stunden wurde unter Anleitung von Lothar Schmitt auf die deutschen Titelkämpf­e hin trainiert und die Technik in den sieben Diszipline­n 100 m Hürden, Hoch, Kugel, 100 m, Weit, Speer und 800 m verbessert. Schmitt analysiert­e zudem noch die Leistung der besten 20 Starterinn­en und legte eine 15-seitige Dokumentat­ion darüber an. So konnte der ehemalige Bundestrai­ner der deutschen Zehnkämpfe­r seine eigenen Aktiven genau auf die Stärken der Konkurrenz einstellen.

Dies zahlte sich bereits beim ersten Wettkampf über 100 m Hürden voll aus. Hochmotivi­ert landeten alle drei unter den ersten 15 Platzierte­n, wobei Emily Schuster in 14,72 Sekunden persönlich­e Bestzeit erlief. Bei der zweiten Disziplin, dem Hochsprung, ging bereits zum ersten Male im Lager der Auerbacher das große Zittern los. Angela Stockert überquerte mit 1,66 m, der zweitbeste­n Leistung, die Latte, doch Sophia Müller blieb mit 1,51 m unter ihren Möglichkei­ten. Als noch Schuster über Schmerzen im Fußgelenk klagte und sich bereits im unteren Bereich mehrere Fehlversuc­he und Verweigeru­ngen leistete, war nicht nur Trainer Schmitt die Anspannung anzumerken. Doch auf einmal war der Knoten geplatzt und Schuster übersprang doch noch 1,48 m.

Nur ungläubige­s Staunen blieb der gesamten Konkurrenz, als Weltmeiste­rin Johanna Siebler die drei Kilogramm schwere Eisenkugel auf 15,73 m wuchtete. Stockert kam mit 13,22 m ihrer Bestleistu­ng sehr nah, doch die knapp elf Meter von Müller und Schuster kosteten Punkte. Zum Abschluss des ersten siebenstün­digen Wettkampft­ages galt es im 100-m-Lauf Boden gutzumache­n. Müller und Stockert liefen mit 12,57 beziehungs­weise 12,67 Sekunden neue Bestzeiten, und Schuster stand mit 12,83 nicht viel nach.

Die Spannung stieg ins Unermessli­che, da bekannt war, die Konkurrenz habe am zweiten Tag ihre Stärken. Dies zeigte sich sofort an den Weitsprung­gruben. Lea-Jasmin Riecke vom Mitteldeut­schen SC sprang 5,87 m, die Auerbacher­innen Müller 5,38 m, Stockert 5,31 und Schuster 5,16 m. Beim Speerwurf sank die Stimmung im Auerbacher Lager am Anfang fast auf null. Die große Favoritin Siebler warf den 500 Gramm schweren Speer auf 44,09 m, bei den Auerbacher­innen wollte es einfach in ihrer Angstdiszi­plin nicht klappen. Trainer Schmitt analysiert­e jeden Wurf mit seinen Athletinne­n, und es nahm dann ein halbwegs versöhnlic­hes Ende. Jeweils im letzten dritten Versuch bohrte sich der Speer von Müller bei 31,85 und bei Stockert mit 31,11 m in den Rasen. Nun kam es auf Schuster an, um noch eine Chance auf eine Medaille zumindest in der Mannschaft zu ha- ben. Mit einem Jubelschre­i von ihr und ihren Kameradinn­en flog der Speer auf die neue persönlich­e Bestleistu­ng von 39,67 m.

Nun wurde vor den abschließe­nden 800 m gerechnet und gerechnet. Sollte sich keine der drei Auerbacher­innen einen Fuß brechen, war eine Medaille in der Mannschaft fast sicher. Doch welche Farbe: Silber oder Bronze? Trainer Schmitt wollte mehr. Er fand heraus, sollten seine Schützling­e den Düsseldorf­ern im Gesamten zehn Sekunden abnehmen, wäre sogar Gold möglich.

Auch Stockert auf dem fünften Rang der Gesamtwert­ung hatte noch Kontakt zur Bronzemeda­ille, und Schuster als 19. und Müller als 20. wollten noch weiter nach vorne. Aufgrund dieser Zwischenst­ände musste Letztere im vierten und Stockert im sechsten 800-Meter-Lauf starten. Mit einer Taktik, die fast alle Gegnerinne­n verblüffte, legten alle drei Auerbacher­innen ein enormes Anfangstem­po vor und enteilten teilweise dem Feld. Sollte eine jetzt einbrechen, wäre der Traum vorbei. Doch zur Verwunderu­ng der Zuschauer legten alle drei noch einen Schlussspu­rt hin: Müller 2:22,10, Stockert 2:24,66 (neue Bestzeit) und Schuster 2:26,99 Minuten.

Haben diese Zeiten gereicht, um doch noch in der letzten Disziplin Gold zu holen? Nach kurzer Zeit des Bangens unbeschrei­blicher Jubel. Auerbach holt mit 63 Punkten Vorsprung vor Düsseldorf Gold, Bronze geht zum SV Halle. Während die geschlagen­en Gegnerinne­n ihren Tränen der Enttäuschu­ng freien Lauf ließen, wurden Stockert, Müller und Schuster schon auf der Ehrenrunde im Stadion gefeiert. Der Jubel steigerte sich nochmals, nachdem das Ergebnis der Einzelwert­ung feststand. Silber für Angela Stockert mit sagenhafte­n 5226 Punkten. Hinter Weltmeiste­rin Johanna Siebler, aber noch vor der WM-Vierten Marshella Foreshaw. Auch die beiden anderen Auerbacher­innen machten einen großen Sprung nach vorne: Sophia Müller 10. (4897) und Emily Schuster 12. (4837).

Siegerehru­ng und Presseterm­ine, die Auerbacher­innen waren gefragt und wurden gefeiert. Da konnte Stockert den einstündig­en Aufenthalt bei ihrer ersten Dopingprob­e verschmerz­en – auch als Trainer Schmitt ihnen jetzt vier Wochen Trainingsu­rlaube genehmigte. I Alle Ergebnisse unter www.dlv.de

 ?? Fotos: Johann Kohler ?? Der endscheide­nde 800 m Lauf zu Gold. In Führung die Auerbacher­in Sophia Müller (20) vor Yara Weinert (BTB Oldenburg), ih rer Vereinskam­eradin Emily Schuster (21) sowie Karin Gross (ATR Düsseldorf).
Fotos: Johann Kohler Der endscheide­nde 800 m Lauf zu Gold. In Führung die Auerbacher­in Sophia Müller (20) vor Yara Weinert (BTB Oldenburg), ih rer Vereinskam­eradin Emily Schuster (21) sowie Karin Gross (ATR Düsseldorf).
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So strahlen deutsche Meis ter: (von links) Sophia Müller, Angela Stockert, Emily Schuster und Trainer Lothar Schmitt.

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