Augsburger Allgemeine (Land West)
Die Bundesrepublik ist für sie eine Art Fata Morgana
Verfassung – und basteln sich ihre eigene Grundordnung samt dazugehörigen Ausweispapieren.
Vor dem verlassenen Haus des Angeklagten steht Peter Bauer und rätselt, wie es mit seinem Bekannten so weit kommen konnte. Bauer wohnt ein paar Häuser weiter. P. kenne er schon von Kindesbeinen an. Jahrelang habe er ein Kampfsportstudio betrieben und für die Gemeinde und Schulen im Ort Selbstverteidigungskurse angeboten – das habe er schon „fast als Friedensbotschaft“verstanden.
Doch wie wurde dann aus einem Friedensbotschafter ein Gewalttäter? Das könne wohl nur der Schütze selbst beantworten, sagt Bauer. Es habe keine Hinweise gegeben, dass er aggressiv werden könnte. Einmal habe P. sich heftig gegen eine Abwasserabgabe der Gemeinde gewehrt. Zwar klage jeder mal über Steuern, sagt Bauer. Aber im Rückblick werde ihm einiges klar.
„Er hat sich so definiert“, fasst Bauer zusammen: „Er hat seinen eigenen Staat mit seinen eigenen Gesetzen. Und die Bundesrepublik Deutschland hat auf seinem Staatsgebiet nichts verloren und darf dementsprechend keine Steuern gegen ihn erheben.“Der Nachbar kann nur den Kopf darüber schütteln. „Er hat sich da eben seine Theorie zusammengeschustert.“
Es ist nicht nur die Theorie von Wolfgang P. Für das erste Quartal 2017 geht der Bundesverfassungsschutz von deutschlandweit rund 12600 Anhängern der „Reichsbürger“-Szene aus. Seit Ende 2016 – damals wurde das Potenzial auf rund 10000 geschätzt – habe sich deren Zahl damit um etwa ein Viertel erhöht. Die Ermittlungen sind aber noch nicht abgeschlossen. Die Zahl der „Reichsbürger“und „Selbstverwalter“dürfte also noch steigen.
In Bayern geht das Landesamt für Verfassungsschutz von mindestens 3000 „Reichsbürgern“aus. Mit zwei von ihnen hat Roland Frick schon Bekanntschaft gemacht. Frick ist Bürgermeister der oberbayerischen Gemeinde Pliening – dem Sitz der „administrativen Regierung“ „Bundesstaats Bayern“. „Reichsbürger“lenken von dort aus die Geschicke ihrer fiktiven Regierung. Ein kleines Einfamilienhaus im Ortsteil Landsham mit kleinem Garten und noch kleinerer Auffahrt soll das „Innenministerium“sein. Auf dem Briefkasten steht „Poststelle“– mehr deutet nicht auf die vermeintliche Hoheit des Ortes hin.
Im Sommer 2014 kamen zwei „Reichsbürger“zum ersten Mal in Fricks Büro und legten ihm ihre Weltanschauung dar. „Sie wollten ihre Ausweise abgeben, weil sie den Staat nicht anerkennen“, berichtet Frick. Die Ausweise warf das Paar in den Gemeinde-Briefkasten. Aber sonst seien die beiden unauffällig, nicht bösartig. Und im Gemeindeleben spielten sie keine Rolle.
Doch seit dem Vorfall in Georgensgmünd schaue er genauer hin, sagt Frick. Der Bürgermeister war bei der Kripo. „Seit das mit dem Kollegen war, ist das Thema nicht nur stärker präsent, sondern ich würde das auch nicht mehr abtun als Spinnerei.“Auch der Staat schaut nun genauer hin: Seit Georgensgmünd gab es viele Razzien gegen mutmaßliche Anhänger der Szene.
Aber wie umgehen mit dem Gesamtphänomen „Reichsbürger“? Das kommt wohl ganz darauf an, wen man vor sich hat. Denn „Reichbürger“ist nicht gleich „Reichsbürger“, wie der Verfassungsschutz in Bayern erklärt. Es handele sich um eine Splitterbewegung, der ganz unterschiedliche Menschen angehören. In den einschlägigen Milieus fänden sich etwa Neonazis, die die ehemaligen ostdeutschen Gebiete im heutigen Polen und Russland zurückhaben wollten, sagt Birgit Mair vom Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung in Nürnberg. Es gebe zudem Leute mit Finanznöten, die im Internet nach Lösungen suchten, dann jedoch an „Scheinangebote“sogenannter Reichsbürger gerieten. Aber auch psychisch Kranke tummelten sich in der Bewegung. Und so mancher Querulant.
Gerichtsvollzieher gehören zu den wenigen in der Justiz, die sich der direkten Konfrontation mit den „Reichsbürgern“aussetzen müssen. Wie gefährlich so ein Zusammentreffen werden kann, zeigt ein Fall aus dem Jahr 2012: In Sachsen wird ein Gerichtsvollzieher beim Eintreides