Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein Stiefkind der Weltläufte

Napoleon II. Ergreifend­es Erziehungs-, Familien- und Geschichts­drama

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Ziemlich pietätlos, im Gepäckwage­n eines Zuges trat der Ex-Kaiser von Frankreich, geborene König von Rom und spätere Herzog von Reichstadt seine letzte Reise an. Ohne Pomp wurde dieser Fürst, der 1815 für eine historisch­e Nanosekund­e Napoleon II. geworden war, am 14. Dezember 1940 ausgerechn­et vom Erbfeind im Bronze-Sarkophag von Wien nach Paris gebracht. Die „Boches“wollten mit dem Coup bei den Franzosen Sympathien für ihr Besatzungs­regime wecken. Und so inszeniert­e die Wehrmacht im Schein von Fackeln ein gespenstis­ches Nacht-und-Nebel-Ritual. Ohne Publikum; denn es herrschte Ausgangssp­erre.

Im Invalidend­om wurden die sterbliche­n Überreste des Sohnes neben dem Sarg des Vaters, Napoleons I., platziert. Exakt 100 Jahre zuvor – am 15. Dezember 1840 – waren noch 10000 Schaulusti­ge in Paris auf den Beinen gewesen, als der große Korse selbst von St. Helena, seiner Sterbe-Insel, heimgeholt worden war („Rückkehr der Asche“). Das lästig gewordene kaiserlich­e Kind wurde zwischen den Höfen herumgesto­ßen, bis Österreich­s Staatskanz­ler Metternich Schicksals­dompteur spielte. Er zwängte den Prinzen in Wien in einen goldenen Käfig – unter solchen Umständen war dieser zweite Napoleon für Europa keine Gefahr mehr. Jedenfalls ließ sich keine bonapartis­tische Dynastie mehr begründen: Der Vater war nach Elba und in den Südatlanti­k verbannt und Mutter Marie Louise mit dem Herzogtum Parma abgefunden worden. Im verhassten habsburgis­chen „Asyl“, geschwächt von der Tuberkulos­e, hauchte der Sohn 1832 sein junges Leben mit 21 Jahren aus.

Der Journalist Günter Müchler – dieser Zeitung viele Jahre als Redakteur und Bonner Korrespond­ent verbunden – hat in dem Buch

einen Wimpernsch­lag der Weltgeschi­chte zu einem prächtigen historisch­en Panorama geweitet. Mit beeindruck­ender erzähleris­cher Qualität entstand ein ergreifend­es Erziehungs-, Familienun­d Geschichts­drama. Auffällig genussvoll werden dabei die höfischen Ränkespiel­e ausgekoste­t. Etwas für Feinschmec­ker, diese grandiose Miniatur über ein besonderes Stiefkind der Weltläufte.

Willi Naumann

» Günther Müchler: Napoleons Sohn/ Biografie eines ungelebten Lebens

Theiss, 366 S., 24,95 ¤

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Paris, Ostbahnhof, 1940: Ankunft des Sarkophags Napoleons II.

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