Augsburger Allgemeine (Land West)
Kahlschlag im Bilderwald
Vielleicht fällt der Verlust vielen gar nicht auf, weil doch jetzt so außergewöhnlich viele Plakate in der Stadt hängen – Wahlplakate überall. Außerdem verschwinden die Augsburger Litfaßsäulen ja auch nicht gleichzeitig und nicht flächendeckend. Und es sind keine alten Bäume, die gefällt werden, sondern „bloß“so herumstehende Werbeträger. Aber für den, der diese Stadtmöbel nicht nur schätzt, sondern nicht selten seine Spazierwege nach den Bildersäulen ausrichtet, ist der Kahlschlag nicht zu übersehen und kaum zu verschmerzen.
Seit einigen Wochen wird Hand angelegt an Augsburgs Litfaßsäulen. Der Abbau folgt einer Dramaturgie. Es trifft Säulen, die länger schon in Weiß dastehen, unplakatiert. Eines Tages ist das neutrale Papierkleid heruntergerissen, ein paar Fetzen halten sich noch auf dem nackten Betongrau, aus dem die Litfaßsäulen unter ihrem Plakatmantel bestehen. Genauer: Es sind Betonringe, sechs übereinandergestapelt zu einer Röhre, innen hohl. Nächster Schritt: Die grauen, bloßgestellten Säulen, die schon wie Entwürdigte auf dem Weg zum Schafott erscheinen, sind über Nacht „geköpft“. Dann stehen nur noch Stümpfe da. Und beim nächsten Besuch dann: Leerstelle. Wo einmal eine Litfaßsäule stand, die das Straßenbild bestimmte und bebilderte und die wie ein immer neu bestücktes öffentliches Album war, ist nun: nichts mehr. Ein Kreis ist noch zu erkennen, neu eingesät, auf dass Gras darüber wachse. Ein gutes Dutzend Säulen sind schon fort, in der Bleich, in Pfersee, in Oberhausen, Hochzoll, hinterm Fronhof … Zu fürchten ist um alle.
Und, was die Sache noch schlimmer macht: Auch Plakatwände fallen in diesen Wochen. Plakatwände, die jahrzehntelang da standen. Es trifft Seitenstraßen, Wohngebiete zuerst. Domviertel, Oberhausen, Pfersee… Sie reißen die Wände weg, die Holzgerüste dahinter – und wie bei all den Telefonzellen, die schon verschwunden sind, wuchert die Gewohnheit schnell über die Lücke. War da mal was?
Litfaßsäulen und Plakatwände gehören seit einem Jahrhundert zum Inventar der Stadt. Sie sind urbane Ankerpunkte, Wahrnehmungserlebnisse, Bühnen für Werbung, Gestaltung, Information, Bildmacht und Wortungetüm. Und vor allem: Hier verwittert und vergeht und überdauert es, hier darf sich der Zufall austoben, hier entstehen Decollagen, neue Bilder, Unikate, Abrisskunstwerke. Wie herrlich die zerzausten Litfaßsäulen mit ihren wehenden Papierschößen nach einem Sturm! Wie einzigartig die überraschende Neubebilderung der Straße über Nacht. Wie anrührend die Schulkinderkritzeleien und das Nebeneinander von Erotikmesse und Diözesanmuseum. Der Stadtraum verödet. Sagt Bescheid, wenn ihr nur noch geparkte Autos seht.
*** „Intermezzo“ist unsere KulturKolumne, in der Redakteure der Kultur- und Journal-Redaktion schreiben, was ihnen die Woche über aufgefallen ist.