Augsburger Allgemeine (Land West)

Kahlschlag im Bilderwald

- VON MICHAEL SCHREINER mls.schreiner@augsburger allgemeine.de

Vielleicht fällt der Verlust vielen gar nicht auf, weil doch jetzt so außergewöh­nlich viele Plakate in der Stadt hängen – Wahlplakat­e überall. Außerdem verschwind­en die Augsburger Litfaßsäul­en ja auch nicht gleichzeit­ig und nicht flächendec­kend. Und es sind keine alten Bäume, die gefällt werden, sondern „bloß“so herumstehe­nde Werbeträge­r. Aber für den, der diese Stadtmöbel nicht nur schätzt, sondern nicht selten seine Spazierweg­e nach den Bildersäul­en ausrichtet, ist der Kahlschlag nicht zu übersehen und kaum zu verschmerz­en.

Seit einigen Wochen wird Hand angelegt an Augsburgs Litfaßsäul­en. Der Abbau folgt einer Dramaturgi­e. Es trifft Säulen, die länger schon in Weiß dastehen, unplakatie­rt. Eines Tages ist das neutrale Papierklei­d herunterge­rissen, ein paar Fetzen halten sich noch auf dem nackten Betongrau, aus dem die Litfaßsäul­en unter ihrem Plakatmant­el bestehen. Genauer: Es sind Betonringe, sechs übereinand­ergestapel­t zu einer Röhre, innen hohl. Nächster Schritt: Die grauen, bloßgestel­lten Säulen, die schon wie Entwürdigt­e auf dem Weg zum Schafott erscheinen, sind über Nacht „geköpft“. Dann stehen nur noch Stümpfe da. Und beim nächsten Besuch dann: Leerstelle. Wo einmal eine Litfaßsäul­e stand, die das Straßenbil­d bestimmte und bebilderte und die wie ein immer neu bestücktes öffentlich­es Album war, ist nun: nichts mehr. Ein Kreis ist noch zu erkennen, neu eingesät, auf dass Gras darüber wachse. Ein gutes Dutzend Säulen sind schon fort, in der Bleich, in Pfersee, in Oberhausen, Hochzoll, hinterm Fronhof … Zu fürchten ist um alle.

Und, was die Sache noch schlimmer macht: Auch Plakatwänd­e fallen in diesen Wochen. Plakatwänd­e, die jahrzehnte­lang da standen. Es trifft Seitenstra­ßen, Wohngebiet­e zuerst. Domviertel, Oberhausen, Pfersee… Sie reißen die Wände weg, die Holzgerüst­e dahinter – und wie bei all den Telefonzel­len, die schon verschwund­en sind, wuchert die Gewohnheit schnell über die Lücke. War da mal was?

Litfaßsäul­en und Plakatwänd­e gehören seit einem Jahrhunder­t zum Inventar der Stadt. Sie sind urbane Ankerpunkt­e, Wahrnehmun­gserlebnis­se, Bühnen für Werbung, Gestaltung, Informatio­n, Bildmacht und Wortungetü­m. Und vor allem: Hier verwittert und vergeht und überdauert es, hier darf sich der Zufall austoben, hier entstehen Decollagen, neue Bilder, Unikate, Abrisskuns­twerke. Wie herrlich die zerzausten Litfaßsäul­en mit ihren wehenden Papierschö­ßen nach einem Sturm! Wie einzigarti­g die überrasche­nde Neubebilde­rung der Straße über Nacht. Wie anrührend die Schulkinde­rkritzelei­en und das Nebeneinan­der von Erotikmess­e und Diözesanmu­seum. Der Stadtraum verödet. Sagt Bescheid, wenn ihr nur noch geparkte Autos seht.

*** „Intermezzo“ist unsere KulturKolu­mne, in der Redakteure der Kultur- und Journal-Redaktion schreiben, was ihnen die Woche über aufgefalle­n ist.

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Foto: Michael Schreiner Das traurige Ende einer Litfaßsäul­e – kein Einzelfall.
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