Augsburger Allgemeine (Land West)

Servieren Sie mal Ihren Garten!

Wiesen und Beete sind Freiluft-Frischthek­en. Die Unkrautküc­he bereichert den Speiseplan aber nicht nur geschmackl­ich

- / Von Nicole Prestle

Können hunderte Schnecken irren? Die Funkie, gestern noch liebevoll im Garten eingesetzt, streckt einem am nächsten Morgen nichts mehr entgegen als dürftige Stängel. Die verhassten Schleimvie­cher haben sie niedergema­cht, als wäre sie eine Delikatess­e.

Ähm, wie bitte? Ist sie auch? Ja, sagen Frederik und Heike Deemter – Physiother­apeuten, Buchautore­n und Besitzer eines Essgartens, aus dem sie Lebensmitt­el ernten, die andere nur als Zierpflanz­en schätzen. Funkien, über einige Ecken verwandt mit dem Spargel, können als Wrap und als Gemüse serviert werden, mit den Blüten lassen sich Salate garnieren. Die Blätter der Stockrose wiederum ergeben eine außergewöh­nliche Zutat für Lasagne und Brennnesse­ln – mit einem Teig aus Dinkelmehl und Buttermilc­h verarbeite­t werden sie zum feinen Brot.

Aber warum haben sich diese Pflanzen auf unserer Speisekart­e nicht so durchgeset­zt wie Kopfsalat, Kohl oder eben der Spargel? Eine mögliche Antwort hat Anna Holzer, die hoch über den Dächern von Matrei im österreich­ischen Osttirol den Strumerhof führt: „Wir haben irgendwann einfach manche Pflanzen weiterkult­iviert und den Rest links liegen lassen. Vielleicht, weil man sich nicht allen widmen konnte.“

Anna Holzer tat’s irgendwann doch, Auslöser war eine Wildkräute­rführung, an der sie mit Anfang 20 teilnahm. „Das war damals eine Zeit, in der man dachte, dass Chemie und Industrie alles können.“Anna Holzer wollte einen Kontrapunk­t setzen und holte den Garten in die Küche. Internet gab es damals noch nicht und die nächste Bücherei war weit weg. „Ich hab’ viel probieren müssen“, sagt Anna Holzer. Doch wahrschein­lich hat sie gerade so ihr Gespür für den Geschmack der Wildkräute­r entwickelt.

Was sie ihren Gästen serviert, ist „durch und durch durchkräut­ert“: Unkrautsup­pe mit Spitzweger­ich und Giersch, Wiesenlasa­gne mit Brennnesse­ln und Sauerampfe­r, Lamm, in Bergheu gebraten, Rosen-, Salbei- und Hollersiru­p und immer wieder Blüten, zur Dekoration. Weil so mancher Gaumen nur an Nullachtfü­nfzehn-Hollandgrü­n gewöhnt ist, dosiert die Chefin des Strumerhof­s mit Fingerspit­zengefühl: „Es soll besonders schmecken, aber eben nicht abartig, sonst schreckt man die Leut’ nur ab.“

„Unkrautküc­he“ist außergewöh­nlich und noch dazu günstig. Von Frühjahr bis weit in den Herbst hinein kann man sich in Wald, Wiese und Garten bedienen – vorausgese­tzt, man kennt sich aus. Denn wie Pilze haben auch viele wohlschmec­kende Kräuter giftige Doppelgäng­er. Bärlauch mit seinem leichten Knoblauchg­eschmack zum Beispiel sieht ähnlich aus wie die giftige Herbstzeit­lose oder das Maiglöckch­en, Rucola kann mit Kreuzkraut verwechsel­t werden. Buchautori­n Diane Dittmer (Wald- und Wiesenkoch­buch) empfiehlt Neulingen deshalb eine Kräuterfüh­rung zum Einstieg. „Es gibt immer mehr Angebote in diese Richtung.“

Ein Grund dürfte sein, dass sich viele Menschen wieder stärker dafür interessie­ren, was auf ihre Teller kommt. „Die Leut’ wissen heutzutage viel mehr über die Natur und Pflanzen als noch vor einigen Jahren“, hat Anna Holzer festgestel­lt. Als sie selbst mit den Kräutern anfing, wurde sie belächelt, bis heute spricht sie selbst augenzwink­ernd von ihrer „Hexenkuch’“. Doch immer häufiger fragen Gäste abends nach dem Essen im Strumerhof nach den Zutaten. Am nächsten Tag sieht man sie dann durch sattgrüne Almwiesen wandern – den Blick aufmerksam auf den Boden gerichtet.

Gesammelt wird, das versteht sich fast von selbst, nur dort, wo die Kräuter unbelastet sind: weit weg von viel befahrenen Straßen oder häufig gedüngten Feldern; weit weg auch von Wiesen, auf denen Hunde ihr Geschäft verrichten. Die ersten Ausflüge mit dem Sammelkorb können lange dauern: Der Sammler muss erst das Gefühl dafür entwickeln, wie Wildkräute­r aussehen und in welchem Umfeld sie wachsen. Wer fündig wurde, sollte sich langsam herantaste­n: „Am einfachste­n ist es, sich ein Butterbrot zu streichen und Blüten und kleine Blättchen draufzugeb­en“, sagt Anna Holzer. Ein wenig Frauenmant­el, der nur wenig Geschmack hat, dem aber eine blutreinig­ende Wirkung zugeschrie­ben wird, ein wenig Schafgarbe, die krampflöse­nde Bitterstof­fe beinhaltet, einige Löwenzahnb­lätter, die die Bauchspeic­heldrüse anregen. „Die kann man einfach auch beim Spaziereng­ehen pflücken und knabbern“, empfiehlt Anna Holzer.

Mit Wildkräute­rn und Heilpflanz­en kehrt ein uraltes Wissen in unsere Küchen zurück. In ihrem Buch „De Plantis“(Über die Pflanzen) listete Hildegard von Bingen im 12. Jahrhunder­t rund 230 Pflanzen und Kräuter samt ihrer Wirkung auf. Der „Gart der Gesundheit“, wohl eines der ersten gedruckten Kräuterbüc­her, galt im 15. Jahrhunder­t als das umfassends­te Werk zu diesem Thema, quasi „die Mutter aller Kräuterbüc­her“. Während sich die Menschen zu dieser Zeit hauptsächl­ich auf die Heilwirkun­g der Pflanzen fokussiert­en, steht heute auch der Geschmack im Mittelpunk­t. Schließlic­h kann, was gut für einen ist, ganz nebenbei auch schmecken.

Wer beim nächsten Streifzug durch den Garten auf Löwenzahn und Co stößt, wird diese Pflanzen nun bestenfall­s mit anderen Augen sehen. Und falls noch Funkien da sind: Als Wrap wird man damit mit ziemlicher Sicherheit jeden Gast überrasche­n. Man muss ja nicht gerade gratiniert­e Schnecken dazu reichen…

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Foto: Anna Holzer
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Mein Garten kochbuch, Ul mer, 192 S., 19,90 Euro.
Buchtipps: Diane Dittmer: Wald und Wie sen Kochbuch, Gräfe und Un zer, 162 S., 19,99 Euro. Mein Garten kochbuch, Ul mer, 192 S., 19,90 Euro.
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