Augsburger Allgemeine (Land West)
Wahlpflicht einführen?
In Deutschland neigt man zur Pflicht – einerseits. Es gibt eine Streupflicht und eine Gurtpflicht. Und am liebsten hätten die Bürgerbeglücker in ihrer paranoiden Fürsorglichkeit auch eine Helmpflicht für Radfahrer. Aber andererseits hat man auch erlebt, dass Pflichten wieder abgeschafft werden, siehe die Wehrpflicht. Wie in vielen offenen Gesellschaften ist es bei uns im Spannungsfeld zwischen Rechten und Pflichten nie langweilig.
Wahlpflicht? Klingt zunächst verlockend, weil die Idee Charme hat, all den Maulern, Besserwissern und Gewohnheitsfrustrierten, die sich auch am Wahltag hinter dürftigem Gemurre verschanzen, etwas abzuverlangen, indem man sie zu ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung anhält. Aber wollen wir wirklich die Folgen einer Wahlpflicht? Kontrolle, Rechtfertigungsdruck, Sanktionen? Filmt de Maziere dann vor den Wahllokalen und macht Häkchen auf Listen? Zwar bedeutete Wahlpflicht nicht einmal in Bayern, dass man dann die CSU ankreuzen muss – es gäbe ja auch die Möglichkeit, ungültig zu wählen. Bei den Urnengängen zeigt die Tendenz der Wahlbeteiligung nach einigen Durchhängern zuletzt wieder deutlich nach oben. Ein Beleg dafür, dass die Leute ihr Recht wahrnehmen, wenn sie das Gefühl haben, dass es um etwas geht und dass ihre Stimme zählen könnte.
Die Wahlbeteiligung ist ein wichtiger Indikator für die Lage des Landes – ein Thermometer, das die Fieberkurve der Demokratie anzeigt. Das Werben um Nicht- und Erstwähler möchte man als Motivation von Parteien und Kandidaten nicht missen. Noch immer die beste aller Wahlpflichten ist jene, aus freien Stücken Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwesen wahrzunehmen und in Mitverantwortung für die Zukunft seine Stimme abzugeben.