Augsburger Allgemeine (Land West)
Ist dieses Gedicht sexistisch?
Debatte Auf der Fassade einer Berliner Hochschule stehen Verse von Eugen Gomringer. Die Studentenvertretung erkennt in ihnen frauenfeindliche Klischees. Jetzt soll es sogar eine radikale Lösung geben
Berlin/Augsburg
Eigentlich bewundernswert, diese Alice-SalomonHochschule in Berlin. Nicht nur, weil die Fachhochschule neben ihrer Aufgabe, der Ausbildung für soziale Berufe, einen Poetik-Preis vergibt. Die Alice-Salomon-Hochschule hat auch eine Stirnseite ihres Hochschulgebäudes für die Präsentation eines Gedichts hergenommen. Es stammt von Eugen Gomringer, und die Verwendung als Fassadenschmuck ist Folge der Verleihung des Alice-Salomon-Poetik-Preises an den Schweizer Dichter im Jahre 2011. Die damalige Hochschulleitung beschloss, Gomringer um eines seiner lyrischen Werke für die Fassade zu bitten, ein Vorhaben, dem der Dichter mit „avenidas“entsprach. Seither steht in großen Lettern Gomringers Gedicht auf der Mauer: Verse über Alleen, Blumen, Frauen und einen Bewunderer. Zu lesen für jeden, der hier im Berliner Bezirk Hellersdorf vorbeikommt – sofern er des Spanischen mächtig ist, denn Gomringers Gedicht ist in dieser Sprache verfasst.
Nun aber stellt sich der AStA der Hochschule, die Vertretung der Studentenschaft, quer. Schon im vergangenen Jahr hieß es in einem offenen Brief an das Rektorat, dass man Gomringers Gedicht als Aushängeschild der Hochschule nicht für gut befinden könne. Denn dieses Gedicht, so der Wortlaut (unter strikter Verwendung des GenderSternchens), „reproduziert nicht nur eine klassische patriarchalische Kunsttradition, in der Frauen* ausschließlich die schönen Musen sind“. Schlimmer noch: Das Gedicht erinnere „unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen* alltäglich ausgesetzt sind“. Zwar kommen die Unterzeichner des Briefes – der Diktion nach sind sie überwiegend weiblich – dem Gedicht so weit entgegen, dass sie ihm „keineswegs Übergriffe oder sexualisierte Kommentare“unterstellen. Dennoch „erinnert es unangenehm daran, dass wir uns als Frauen* nicht in die Öffentlichkeit begeben können, ohne für unser körperliches ,Frau‘-Sein bewundert zu werden“. Eine Bewunderung, die häufig mit der Angst vor wenn nicht gar dem Erleben von Übergriffen verbunden sei. Die Entfernung des Gedichts würde daher von den Briefschreibern als „Fortschritt“empfunden.
Höchste Zeit also, sich einmal genau anzusehen, wovon Eugen Gomringers Gedicht „avenidas“denn eigentlich spricht.
Gedicht wurde 1951 geschrieben und findet sich in dem epochemachenden Gedichtband „konstellationen“. Wie schon gesagt, ist es auf Spanisch verfasst – Gomringer, 1925 in Bolivien geboren, ist dieser Sprache mächtig. Das Gedicht verwendet lediglich sechs verschiedene Wörter, die sich selbst für Spanisch-Unkundige mithilfe eines Wörterbuchs entschlüsseln lassen. Unter der Überschrift „Alleen“steht da: „Alleen / Alleen und Blumen // Blumen / Blumen und Frauen // Alleen / Alleen und Frauen // Alleen und Blumen und Frauen und / ein Bewunderer“.
Eugen Gomringer, einer der innovativsten Lyriker des deutschen Sprachraums in der zweiten Jahrhunderthälfte, nennt diesen Gedichttypus „Konstellation“, ein Zusammentreffen von Wörtern. „Avenidas“kommt völlig ohne Verben und Adjektive aus; vier Substantive bilden das Gerüst, Verknüpfungen ergeben sich durch das fünfmal erscheinende Bindewort „und“, einmal taucht ein unbestimmter Artikel auf. Sprache, aufs Äußerste reduziert, Konkrete Poesie (eine Gomringer-Wortschöpfung) im eigentli- Sinne: Die Wörter sind lediglich gereiht; wie sie sich zueinander in welchem Sinn verhalten, darüber ist in dem Gedicht nichts gesagt. Assoziationen aller Art sind hier die Türen geöffnet, doch tatsächlich festmachen lassen sie sich nicht in diesen acht Versen. Wo also wären hier Impulse zu finden für „potenziell übergriffige und sexualisierende Blicke“, wie es in dem AStASchreiben heißt? Lässt sich das allen