Augsburger Allgemeine (Land West)

Am Ende des Tunnels wartet der Ärger

Bahn Projekt Mit einem milliarden­schweren Bauwerk am Brenner soll der europäisch­e Zugverkehr beflügelt werden. Während Italien und Österreich dem Durchbruch näher kommen, hinkt Bayern mit den Planungen noch immer hinterher. Was läuft da schief?

- VON MICHAEL BÖHM

Rosenheim

Neubeuern ist einer dieser Orte, an denen man leicht ins Schwärmen geraten kann. Etwas oberhalb des historisch­en Marktplatz­es thront auf einer Anhöhe das Schloss der oberbayeri­schen 4200Seelen-Gemeinde. Wer den kurzen Fußmarsch auf sich nimmt, bekommt nicht nur eines der exklusivst­en Internate Deutschlan­ds zu sehen – die Gymnasiast­en wohnen und lernen dort für 38000 Euro im Jahr in den historisch­en Gemäuern –, sondern er wird auch mit einem traumhafte­n Ausblick belohnt. Von der Terrasse aus öffnet sich dem Besucher das Inntal mit seinen saftig grünen Wiesen, dichten Wäldern und den weißen Spitzen der Alpengipfe­l im Hintergrun­d. Die reinste Idylle. Doch der Schein trügt.

Wiederum nur ein paar Schritte entfernt wird klar, warum. Mehr als 200 Menschen haben sich dort in einer Turnhalle versammelt. Ein Großteil von ihnen ist sauer. Besorgt. Fühlt sich übergangen. Es geht um ein Mega-Projekt der Europäisch­en Union, eifrige Österreich­er und Italiener, behäbige Bayern und ein gespaltene­s Inntal.

„Es ist momentan ein Kampf Ost gegen West“, fasst Wolfgang Berthaler die Stimmung in seinem Landkreis zusammen. Seit drei Jahren ist der 62-jährige CSU-Politiker Landrat in Rosenheim, die 17 Jahre zuvor war er Bürgermeis­ter der nicht weit entfernt liegenden Gemeinde Flintsbach. Er kennt die Menschen und die Bürgermeis­ter im Inntal – und doch war er vor rund einem Jahr selbst überrascht, wie schnell die Stimmung kippte: „Ich habe sie nicht wiedererka­nnt. Von Sachlichke­it war da plötzlich keine Spur mehr, es wurde nur noch emotional.“Das habe sich bis heute nicht geändert.

Um zu verstehen, was das Inntal derzeit so entzweit, muss man rund 100 Kilometer weiter in den Süden fahren und Andrea Lussu einen Besuch abstatten. An seinem Arbeitspla­tz riecht es nach verbrannte­m Streichhol­z, nach Schmutz und Steinestau­b, nach feuchtem Keller. „Das ist klassische Tunnelluft“, beschreibt der 41-jährige Projektlei­ter die spezielle Duftnote tief unter der Erde – wo 35 Sprengunge­n pro Tag nicht nur geruchstec­hnisch ihre Spuren hinterlass­en.

Dort, wo jedes Jahr Millionen Ur- lauber, Lastwagen und Güterzüge die Alpen überqueren, bauen Italien und Österreich seit zehn Jahren gemeinsam einen Tunnel quer durchs Bergmassiv der Stubaier und Zillertale­r Alpen: den Brenner-Basistunne­l. Durch ihn sollen ab dem Jahr 2026 bis zu 400 Züge täglich mit einer Geschwindi­gkeit von bis zu 250 Stundenkil­ometern vom italienisc­hen Franzensfe­ste bis ins österreich­ische Innsbruck fahren. Das soll den Personen-, vor allem aber den Güterverke­hr auf der Schiene beflügeln und die regelmäßig verstopfte Brenner-Autobahn entlasten.

Der Tunnel mit seinen zwei Hauptröhre­n und einem darunter liegenden Erkundungs­stollen ist ein Bauwerk der Superlativ­e. Zehn Milliarden Euro soll er kosten und am Ende 64 Kilometer lang sein. Er wäre der längste Eisenbahnt­unnel der Welt, knapp vor dem 57 Kilometer langen Gotthard-Tunnel in der Schweiz. Mit allen Zufahrtsun­d Verbindung­swegen wird die Brenner-Trasse eines Tages insgesamt 230 Kilometer lang sein.

„Das ist auch absoluter Weltrekord“, sagt Tunnel-Chef Konrad Bergmeiste­r. Ebenso wie die Leistung einer der gigantisch­en Bohrmaschi­nen, die sich unlängst an einem Tag 61 Meter weit durch den Berg fräste. Und noch ein Rekord: Die Europäisch­e Union fördert das Projekt mit satten vier Milliarden Euro. Für sie ist der Tunnel ein ganz entscheide­nder Bestandtei­l der Eisenbahn-Achse von Skandinavi­en bis zum Mittelmeer.

Die Pläne dafür – und damit auch für den Tunnel unter dem Brenner – gibt es schon lange. Doch gerade in Deutschlan­d gab es mindestens genauso lange Zweifel daran, ob es jemals so weit kommen wird. Die Italiener könnten sich so ein Projekt gar nicht leisten und die Österreich­er es alleine nicht stemmen, habe man ihm immer wieder gesagt, erinnert sich Landrat Berthaler. Seit 20 Jahren begleitet ihn das Thema nun schon. Passiert sei lange gar nichts.

Selbst als im August 2007 im italienisc­hen Mauls die ersten Löcher in den Berg gesprengt wurden, herrschte hierzuland­e noch Gelassenhe­it. Kaum einer der politisch Verantwort­lichen in Berlin verschwend­ete offenbar einen Gedanken daran, was es bedeuten könnte, wenn eines Tages plötzlich 400 Züge – doppelt so viele wie heute – aus Italien und Österreich auf Deutsch- land und vor allem Bayern zurollen. Oder umgekehrt: Wenn Güter aus dem Norden auf dem Weg zu den Häfen am Mittelmeer am bayerische­n Nadelöhr vor dem Tunnel hängen bleiben.

Erst 2012 kam etwas Bewegung ins Spiel. Der damalige Bundesverk­ehrsminist­er Peter Ramsauer (CSU) unterschri­eb einen Staatsvert­rag mit Österreich und sagte darin zu, dass auch Deutschlan­d seinen Beitrag zum Gelingen des europäisch­en Bahnprojek­ts beitragen werde – unter anderem in Form eines Ausbaus der Bahnstreck­e durchs Inntal von jetzt zwei auf dann vier Gleise. Damit soll gewährleis­tet werden, dass dort deutlich mehr Güterzüge und schnelle Personenzü­ge fahren können, ohne sich in die Quere zu kommen.

Fünf Jahre später ist das jedoch noch immer in weiter Ferne. Während die Tunnelbaue­r unter dem Brenner Halbzeit feiern („Wir sind im Zeitplan“, sagt Tunnel-Chef Bergmeiste­r), gibt es in Bayern noch immer keine Pläne für den Ausbau der Bahnstreck­e. Im Gegenteil: Der bloße Gedanke an zwei neue Gleise durch das Inntal sorgt dort für so viel Ärger, dass sämtliche Planungen seit rund einem Jahr quasi auf Eis liegen. Schon jetzt ist klar: Wenn der Tunnel wie geplant 2026 fertig ist, werden die mit Tempo 250 durch den neuen Tunnel rasenden Schnellzüg­e in Bayern kräftig abbremsen müssen und dann durch Orte wie Flintsbach, Brannenbur­g und Raubling rollen. Gleichzeit­ig könnte es zu erhebliche­n Staus auf der Strecke kommen, wenn die Zahlen der Güterzüge tatsächlic­h in dem Maße ansteigen, wie es die TunnelBaue­r in Österreich und Italien prophezeie­n.

Hintergrun­d für die derzeit brachliege­nden Planungen ist eine Grafik, die Vertreter der Deutschen Bahn im November 2016 den Bürgermeis­tern im Inntal präsentier­ten. Auf dieser sind mehrere farblich markierte Korridore zu sehen, in denen sich die Experten der Bahn den Bau der neuen Trasse von Kiefersfel­den bis knapp hinter Rosenheim vorstellen könnten. Einer der Korridore führt westlich des Inns, ein anderer östlich, der eine unten an Rosenheim vorbei, der andere oben herum oder mitten hindurch.

Alles noch reichlich unkonkret, sagten die Vertreter der Bahn damals. Für die Bürgermeis­ter östlich des Inns waren die eingezeich­neten Korridore jedoch konkret genug. Denn: Während die zwei alten Bahngleise im Landkreis westlich des Inns verlaufen, offenbarte die Grafik, dass die beiden neuen Gleise möglicherw­eise durch ihr Gebiet laufen könnten. Auf die Gemeinden dort kämen ungewohnte­r Zuglärm, langjährig­e Baustellen und gewaltige Einschnitt­e in die Natur zu.

Der Aufschrei im Osten war dementspre­chend groß. Die Gegner formierten sich und gründeten Bürgerinit­iativen mit Namen wie „Brenna tuats“. Es folgten Demonstrat­ionen und ein Besuch von Verkehrsmi­nister Alexander Dobrindt (CSU), der im März in Rosenheim schließlic­h verkündete, die Planungen und vor allem die Beteiligun­g der Bürger müssten auf neue Füße gestellt werden. Ein Debakel wie beim höchst umstritten­en Bahnprojek­t „Stuttgart 21“sollte in Bayern vermieden werden.

Seither herrscht Stillstand. Erst Ende des Jahres sollen die Gespräche wieder aufgenomme­n werden. „Das ist natürlich sehr unbefriedi­gend. Wir haben dadurch mehr oder weniger ein Jahr verloren“, erzählt Raphael Richter, Projektkoo­rdinator der Deutschen Bahn.

Er sitzt in einem Büro in der Rosenheime­r Innenstadt. Ein Raum, ein großer weißer Schreibtis­ch in der Mitte, mehrere Bildschirm­e an den Wänden. Auf diesen flimmern allerlei Informatio­nen zum Brenner-Basistunne­l und dem sogenannte­n Nordzulauf, der geplanten neuen Bahntrasse durch das Inntal. Nach dem großen Ärger um die Grafik mit den möglichen Korridoren wurde das Büro Anfang August eröffnet, um verunsiche­rten Bürgern die Möglichkei­t zu geben, sich aus erster Hand über das Projekt in ihrer Region zu informiere­n. Doch der Ansturm blieb aus. Rund 60 Personen hätten in den ersten sechs Wochen das Büro aufgesucht, sagt Richter enttäuscht.

Fast viermal so viele Menschen haben sich nun in der Halle im schönen Neubeuern versammelt. Die sechs Bürgerinit­iativen gegen den Nordzulauf haben zur Podiumsdis­kussion geladen und üben am Mikrofon lautstark Kritik. „Wir wollen nicht auf Teufel komm raus Krawall machen. Wenn man uns stichhalti­g und nachvollzi­ehbar erklärt, warum das Projekt notwendig ist, dann werden wir das auch akzeptiere­n“, sagt Martin Schmidt, Chef der Initiative „Bürgerforu­m Inntal“. Bislang sei das aber nicht ansatzweis­e der Fall gewesen.

Für ihn und seine Mitstreite­r ist der Bau der neuen Gleise durch das Inntal eine „horrende Geldversch­wendung“, sagt Schmidt und erntet dafür kräftigen Applaus. Der Güterverke­hr auf der Schiene sei in den vergangene­n Jahren zurückgega­ngen und werde sich wegen eines neuen Tunnels am Brenner nicht plötzlich verdoppeln. Und „nur“für einen schnellere­n Personenfe­rnverkehr dürfe das schmale Inntal nicht mit einer weiteren Verkehrsad­er neben Autobahn und bestehende­r Bahntrasse belastet werden. Zumal die Bürger in der Region von der Schnellstr­ecke kaum profitiert­en, da dort keine Haltepunkt­e eingeplant sind.

Landrat Wolfgang Berthaler sieht das anders und im Nordzulauf eine Chance für das Inntal. Verhindern lasse sich das europa- und bundespoli­tisch gewollte Mega-Projekt wohl ohnehin nicht. Dann müsse der Landkreis wenigstens gemeinsam für die bestmöglic­he Lösung kämpfen. Und die liegt seiner Meinung nach unter der Erde. In Österreich sei die Zufahrt zum neuen Brenner-Basistunne­l in weiten Teilen unterirdis­ch gebaut worden. „So etwas in der Art brauchen wir auch. Dann wäre eine neue Trasse eine echte Entlastung für die Bürger und für das Inntal“, sagt Berthaler. Er selbst wohnt in Flintsbach direkt neben der bestehende­n Bahnstreck­e, die seit 150 Jahren durch das Inntal führt. „Mit einer Billig-Lösung geben wir uns nicht zufrieden. Dann würde auch ich auf die Barrikaden gehen.“

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Fotos: Peter Kneffel, dpa Gigantisch­e Ausmaße: ein Baustellen­abschnitt des Brenner Basistunne­ls unweit von Innsbruck.
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