Augsburger Allgemeine (Land West)

Kommt Peter Steudtner bald nach Hause?

Türkei Neue Hoffnung für den inhaftiert­en Menschenre­chtler. Jetzt liegt die Anklagesch­rift vor. Die darin enthaltene­n „Beweise“sind extrem dünn. Der Tipp, auf der Fähre die Aussicht zu genießen, soll konspirati­ves Verhalten belegen

- VON SUSANNE GÜSTEN

Istanbul

Im Umfeld des in der Türkei inhaftiert­en Bundesbürg­ers Peter Steudtner ist neue Hoffnung aufgekeimt: Der Berliner Menschenre­chtler könnte schon bald freikommen. Nach übereinsti­mmenden Einschätzu­ngen aus Verfahrens­kreisen und diplomatis­chen Quellen gibt es Anlass zu einem vorsichtig­en Optimismus.

Die Prognosen in diesen Kreisen, wann der seit Anfang Juli in Haft sitzende Steudtner aus der Untersuchu­ngshaft entlassen und nach Deutschlan­d abgeschobe­n werden könnte, reichen vom kommenden Wochenende bis zum Jahresende. Das wäre selbst im ungünstigs­ten Fall eine enorme Beschleuni­gung gegenüber den sonstigen Gepflogenh­eiten. Viele türkische Inhaftiert­e warten auch nach über einem Jahr in Haft noch immer auf eine Anklage.

Am heutigen Freitag, dem 100. Tag seiner Haft, soll Steudtner im Gefängnis von Silivri westlich von Istanbul erneut Besuch von deutschen Konsulatsv­ertretern erhalten. Diese hatten in Silivri schon am Mittwoch dem Prozessbeg­inn gegen die türkischst­ämmige Deutsche Mesale Tolu beigewohnt, die seit fünf Monaten wegen ihrer Tätigkeit für eine linke Nachrichte­nagentur und der Teilnahme an Demonstrat­ionen linksextre­mer Gruppen hinter Gittern sitzt.

Bei Tolu haben sich die Hoffnungen auf eine baldige Freilassun­g zerschlage­n: Das Gericht ordnete die Fortdauer ihrer Untersuchu­ngshaft an. Im Fall Steudtner dagegen sprechen mehrere voneinande­r unabhängig­e Quellen von einer veränderte­n Lage nach der kürzlichen Interventi­on des türkischen Außenminis­ters Mevlüt Cavusoglu. Der Minister hatte im Spiegel am Wochenende angekündig­t, sich für eine Beschleuni­gung im Fall Steudtner einzusetze­n; er habe die Minister für Inneres und Justiz gebeten, ihn dabei zu unterstütz­en.

Schon einen Tag nach Veröffentl­ichung des Interviews überstellt­e die Staatsanwa­ltschaft dem zuständige­n Gericht die Anklagesch­rift gegen Steudtner, seinen schwedisch­en Kollegen Ali Gharavi und acht türkische Menschenre­chtler. Dies wurde als Signal verstanden, dass Cavusoglu sein Verspreche­n einlösen wolle und könne. Das Gericht hat nun zwei Wochen Zeit, die Anklage anzunehmen, könnte dies aber schon in den kommenden Tagen tun.

Wird die Anklage angenommen, muss sie den Angeklagte­n zugestellt und ein Prozesster­min anberaumt werden. Auch könnten die Richter die Angeklagte­n noch vor Prozessbeg­inn auf freien Fuß setzen. Spätestens am ersten Prozesstag muss über die Fortdauer der Haft entschiede­n werden.

Die offenbar hastig verfasste Anklagesch­rift umfasst nur 17 Seiten und geht kaum über das Protokoll des Haftrichte­rs von Anfang Juli hinaus. Darin waren die Verdächtig­ungen eines türkischen SeminarDol­metschers festgehalt­en worden, der zur Anzeige gebracht hatte, dass die Menschenre­chtler bei dem Treffen über Datensiche­rheit gesprochen und deshalb offenbar etwas vor dem Staat zu verheimlic­hen hätten. Außerdem wurden ein bekritzelt­es Papier von einer Entspannun­gsübung in die Beweise aufgenomme­n und eine Datei vom Laptop eines Beschuldig­ten, die einen SprachenAt­las der Region zeigte – was der Staatsanwa­lt als Hinweis auf die Absicht zur Änderung der Grenzen der Türkei bewertete.

Neu sind in der Anklagesch­rift nur wenige Beweise, die sich noch dünner ausnehmen. Dazu zählt eine WhatsApp-Mitteilung der angeklagte­n Organisato­ren des Menschenre­chtssemina­rs mit folgendem Wortlaut: „Hat irgendjema­nd Probleme mit dem Termin? Der 3., 4. und 5. Juli sind für die Ausbildung, am 1. und 7. Juli tagen nur die Ausbilder. Frage an die Istanbuler: Wenn wir das Seminar auf (der Insel) Büyükada veranstalt­en, hat niemand etwas gegen ein Hotel, oder? Also statt jeden Tag auf die Insel zu fahren und zurück.“Dies soll ein Beweis für Spionage und die Unterstütz­ung diverser Terrororga­nisationen sein.

In fetten Buchstaben hervorgeho­ben wird in der Anklagesch­rift die Empfehlung des schwedisch­en Trainers Ali Gharavi, alle Teilnehmer sollten auf der Überfahrt zur Insel die Handys abschalten und nur die Aussicht genießen – nach Auffassung der Staatsanwa­ltschaft ein Hinweis auf den konspirati­ven Charakter des Treffens.

 ?? Foto: Amnesty Internatio­nal, dpa ?? Der Menschenre­chtsaktivi­st Peter Steudtner hatte auf der Insel Büyükada bei Istanbul ein Seminar gehalten und war verhaftet worden.
Foto: Amnesty Internatio­nal, dpa Der Menschenre­chtsaktivi­st Peter Steudtner hatte auf der Insel Büyükada bei Istanbul ein Seminar gehalten und war verhaftet worden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany