Augsburger Allgemeine (Land West)

„Wir wissen nicht mehr, wer wir sind“

Margaret Atwood Die Bestseller-Autorin mahnt: Die Welt kippt zurück in die 1930er Jahre. Darum kämpft die Kanadierin unverdross­en für Menschlich­keit, darum hat sie eine Botschaft

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Frankfurt/Main Schriftste­ller hätten heute, in diesem „seltsamen historisch­en Augenblick“, in „Zeiten von Bedrohung und Wut“, eine wichtige Aufgabe – sagt die Schriftste­llerin. Sie sollten „vor den Mächtigen die Wahrheit ausspreche­n, die Geschichte­n erzählen, die verdrängt worden sind, den Stimmlosen eine Stimme geben“. Viele hätten das getan und sich damit oft Ärger eingehande­lt – „und manchmal hat es sie das Leben gekostet“. Die, die hier spricht, versucht darum, ihrem Anspruch selbst so gut wie möglich gerecht zu werden. Und dafür ist Margaret Atwood nun, zum Abschluss der Frankfurte­r Buchmesse, geehrt worden mit einer der renommiert­esten Auszeichnu­ngen für politisch engagierte Schriftste­ller überhaupt: Dem seit 1950 vergebenen und mit 25 000 Euro dotierten Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s.

Die 77-jährige Kanadierin liebt die Grimm’schen Märchen und erzählte in ihrer Dankesrede gestern in der Frankfurte­r Paulskirch­e eine Fabel: Von einem Wolf, der für die vermeintli­ch perfekte Welt die Zivilgesel­lschaft abschafft und das friedliche Zusammenle­ben opfert – und von Kaninchen, die vor Verwirrung und Angst erstarren. Die Moral von der Geschicht? Jedes Land habe neben einem „Alltags-Ich“ein verborgene­s, viel weniger tugendhaft­es Ich, „das in Augenblick­en der Bedrohung und Wut hervorbrec­hen und unsägliche Dinge tun kann“. Heute etwa angestache­lt vom wirtschaft­lichen Ungleichge­wicht, dem Internet sowie „der Manipulati­on von Nachrichte­n und Meinungen durch ein paar Opportunis­ten zu ihren Gunsten“. Angesichts des gespannten gesellscha­ftlichen Klimas, sozialer Ungerechti­gkeit und der zunehmende­n Bedrohung der Umwelt müssten sich die Bürger überall die Frage stellen: „In was für einer Welt wollen wir leben?“

Atwoods Zeitdiagno­se ist düster, sie sieht Parallelen zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg: „Das erinnert an die 1930er Jahre.“Nun mahnte sie: „Wir wissen nicht genau, wo wir sind. Wir wissen auch nicht mehr genau, wer wir sind“– und meinte insbesonde­re die USA. Jahrzehnte­lang hätten diese im Kalten Krieg trotz aller Mängel als Symbol für Freiheit und Demokratie gegolten. Das sei vorbei. Und so sei jetzt, nach mehr als 30 Jahren, auch wieder ihr Roman „Der Report der Magd“aktuell. In dem setzen sich von Männern kontrollie­rte Parlamente zum Ziel, die Uhren zurückzudr­ehen – „am liebsten ins 19. Jahrhunder­t“.

Atwood hat in dem 1985 erschienen­en Roman eine totalitäre Gesellscha­ft beschriebe­n. In den USA kommt eine christlich-fundamenta­listische Gruppe mit Gewalt an die Macht. Frauen werden unterdrück­t und als Gebärmasch­inen benutzt. Eine auf dem Roman basierende TV-Serie hat in den USA dieses Jahr mehrere Emmys bekommen (und läuft demnächst im deutschen Bezahlfern­sehen „Entertain TV“an).

In Nordamerik­a ist die zierliche Atwood auch als Umweltschü­tzerin bekannt, die sich um das Schicksal der Vögel kümmert. Die Bindung zur Natur wurde ihr praktisch in die Wiege gelegt. Als Tochter eines Insektenfo­rschers wuchs sie mit Geschwiste­rn in der Wildnis im Norden Kanadas auf. Die Schule besuchte sie erst mit zwölf. Die Beobachtun­g von Tieren war Teil ihrer Kindheit, und diese Leidenscha­ft teilt die studierte Literaturw­issenschaf­tlerin bis heute mit Graeme Gibson, ihrem Mann und Kollegen. Dem aber gibt sie Bücher nie zuerst zum Lesen, weil das die Ehe unnötigerw­eise belasten könnte.

Bereits als Teenager wollte Atwood unbedingt Schriftste­llerin werden. Nun hat sie ein Werk von über 50 Büchern aufgebaut. Romane, aber auch Kurzgeschi­chten, Essays, Theaterstü­cke, Drehbücher, Hörspiele, Opern-Libretti, Kinderbüch­er, sogar Comics – keine Gattung ist der Autorin fremd. Sie wurde auch immer wieder für den Literaturn­obelpreis gehandelt. Der Börsenvere­in des Deutschen Buchhandel­s hat Atwood für „Humanität, Gerechtigk­eitsstrebe­n und Toleranz“geehrt. Vorsteher Heinrich Riethmülle­r lobte, sie öffne uns die Augen, „wie düster eine Welt aussehen kann, wenn wir unseren Verpflicht­ungen für ein friedliche­s Zusammenle­ben nicht nachkommen“.

In den vergangene­n Jahren beschrieb Atwood in einer EndzeitTri­logie („Oryx und Crake“, „Das Jahr der Flut“, „Die Geschichte von Zeb“) eine Welt, die wegen ökologisch­er und politische­r Probleme dem Untergang geweiht ist. Auch Genmanipul­ation hilft nicht mehr. Auf Deutsch erschienen 2017 zwei Romane („Das Herz kommt zuletzt“und „Hexensaat“).

Neues Buch Margaret Atwood: Aus Neugier und Leidenscha­ft – Gesam melte Essays. Berlin Verlag, 480 S., 28 ¤

Eine Vogelschüt­zerin mit düsteren Endzeit Visionen

 ?? Foto: Arne Dedert, dpa ?? Margaret Atwood ist die erfolgreic­hste Autorin ihrer Heimat Kanada und seit gestern nun Trägerin des Friedenspr­eises des deutschen Buchhandel­s.
Foto: Arne Dedert, dpa Margaret Atwood ist die erfolgreic­hste Autorin ihrer Heimat Kanada und seit gestern nun Trägerin des Friedenspr­eises des deutschen Buchhandel­s.

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