Augsburger Allgemeine (Land West)
Wahrheit aus der Nacht
Schriftsteller Franzobel bei den Martinstagen
Der Kleine Goldene Saal gab ein glanzvolles Ambiente für den Abend „Wahrheit oder Pflicht?“im Rahmen der „Martinstage“. Namhafte Autoren waren eingeladen, von der schwierigen Suche nach der jeweils gültigen Wahrheit aus ihrem jeweiligen Blickwinkel zu erzählen und aus ihren jüngsten Werken zu lesen. Angesichts der nur knapp 30 Zuhörer, die am Freitagabend gekommen waren, meinte der Berliner Journalist und Moderator Kai Schächtele: „Ein recht kuscheliger Rahmen.“
Der Österreicher Franzobel, ein mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller, hatte seinen Roman „Das Floß der Medusa“mitgebracht. Das Werk stützt sich auf eine historisch belegte Begebenheit im Jahr 1816. 15 von ursprünglich 147 Menschen, die nach dem Untergang der Fregatte Medusa auf einem Floß ausgesetzt worden waren, überlebten zwei Wochen auf offener See. Beim Lesen einer Szene auf dem Floß lässt Franzobel die Zuhörer teilhaben an dem, was sich auf diesem Floß getan haben könnte. Es stockt der Atem, wenn er seine Figuren auf dem Floß über den Verlust von Menschlichkeit und Zivilisation debattieren lässt, während andere „damit begonnen haben, die Toten zu verspeisen“. „Der Stoff hat mich gepackt“, meinte Franzobel, der diesen Roman aus der Perspektive des 21. Jahrhunderts und der Frage, welchen Preis die Menschlichkeit hat, erzählt.
„Ich kann diesen Roman nur loben, aber man schläft schlecht“, urteilte der Wissenschaftspublizist Ernst Peter Fischer über Franzobels Buch. „Die Wahrheit ist nicht das, was ich am Tag sehe, sondern in der Nacht.“Fischer selbst sprühte, als er aufzeigte, unter welchem Erfolgszwang Forscher heute stehen. Teilt der Wissenschaftler, der ein positives Ergebnis hat, das mit der Theorie übereinstimmt, ehrlich mit, wie er wirklich gearbeitet hat? Forschungen und ihre Ergebnisse hingen oft davon ab, wie viele Gelder es dafür gibt – und was gerade modern ist. Etwa die Genomforschung. Wissenschaft, so Fischer, habe oft mit Marketing zu tun oder damit, „dass Menschen Ruhm haben wollen“.
Die Journalistin Kathrin Hartmann wurde als „Mensch gewordener Furor“vorgestellt. Und sie widersprach nicht. „Ich lass’ mich nicht für blöd verkaufen“, sagte sie und ließ das Publikum an ihren jüngsten Entlarvungen, den „grünen Lügen“der Großkonzerne, die sich der Nachhaltigkeit rühmen, teilhaben. Unterwegs auf den Palmöl-Plantagen in Indonesien schilderte sie, wie durch Raubbau und Rodung den Menschen dort die Lebensgrundlage entzogen wird – für unseren Biotreibstoff, Schokoaufstrich und unsere Tütensuppen.