Augsburger Allgemeine (Land West)

Hier rauscht täglich die Gefahr vorbei

Eng, unübersich­tlich, gefährlich: Der Bahnhof in Neusäß steht seit Jahren vor allem bei Eltern in der Kritik. Warum der Umbau der Haltestell­e nahe des Schulzentr­ums noch weit entfernt ist

- VON SVEN KOUKAL UND REGINE KAHL

Das schrille Signalhorn des vorbeiraus­chenden ICE am Bahnhof in Neusäß ist nicht zu überhören. Konrad Römer zuckt zusammen, die wartenden Schüler machen einen großen Schritt weg vom engen Bahnsteig. „Dass der Lokführer ein Warnsignal gibt, ist eine Ausnahme“, sagt der Rentner und zupft seine orangene Warnweste zurecht. Der 68-Jährige weiß, wovon er spricht, er hat bis zu dreimal in der Woche den gefährlich­en Bereich rund ums Gleis im Blick. Römer sagt: „Die Haltestell­e in Neusäß ist nach wie vor gefährlich, vor allem für Kinder.“

Zusammen mit seinem Kollegen Helmut Böhm schaut Römer als Bahnaufsic­ht regelmäßig zur Mittagszei­t für eine Stunde nach dem Rechten: Dass niemand den weiß schraffier­ten Bereich an der Bahnsteigk­ante überschrei­tet, es zu keinen Rangelein unter Schülern kommt oder gar jemand ins Gleisbett steigt. Unterstütz­ung erhalten die Senioren von der DB-Sicherheit – zwei Fachkräfte sind ebenfalls bis zu dreimal in der Woche zur Mittagszei­t auf Streife. Im Landkreis Augsburg sind insgesamt sieben Aufsichten unterwegs.

Wieso der Bahnhof so gefährlich ist, liege besonders daran, dass er in einer Kurve liegt. Da sind sich die Aufpasser einig. Die herrannahe­nden Schnellzüg­e sind zwar zu hören, aber erst sehr spät zu sehen. Mit bis zu 140 Kilometern in der Stunde donnern sie wenige Meter entfernt an den Wartenden vorbei. „Es kommt eine Durchsage – aber nicht zeitgerech­t, sondern pauschal alle fünf Minuten“, erklärt Römer. Dann schallt es durch den Lautsprech­er: Achtung Zugbetrieb. Halten Sie Abstand von der Bahnsteigk­ante und betreten Sie den gekennzeic­hneten Bereich erst nach Halt des Zuges.

Seine Erfahrung habe ihm gezeigt: Die Bandansage allein reicht nicht. Manchmal spreche er an Gleis 3 daher gezielt vor allem junge Schüler an, die herumtolle­n. „Gerade Fünft- und Sechstkläs­sler sind nach dem Unterricht aufgedreht und vergessen unter Umständen, dass sie sich in Gefahr begeben“, erklärt Römer. Mittlerwei­le habe sich die Situation am Bahnsteig etwas entspannt: Viele Schüler gehen nun an das Gymnasium in Diedorf, da- her seien es deutlich weniger Kinder und Jugendlich­e nach Schulschlu­ss am Bahnsteig. „Die verteilen sich über die gesamte Länge des Bahnhofs“, sagt Römer.

Das sieht Frank Rindle, Elternbeir­atsvorsitz­ender des nahe gelegenen Justus-von-Liebig-Gymnasiums, anders: „Wenn bis zu 500 Schüler nach dem Unterricht Richtung Bahnhof gehen, dann ist es doch logisch, dass es am Steig verdammt eng wird.“Die Sicherheit am Bahnhof sei bei den Eltern ein Dauerthema. Eine Unterschri­ftenaktion vor vier Jahren, welche von einer besorgten Mutter ausging, habe lediglich zu kleinen Verbesseru­ngen wie Durchsagen und einer Aufsicht geführt. „Ganz verschwund­en ist das Problem aber ehrlich gesagt nicht“, stellt Rindle fest.

Die Forderunge­n aus dem Beirat: Schnellzüg­e auf das Mittelglei­s verlegen, hohe Einstiege vermeiden und mehr Platz zwischen Gleis und Bahnsteig schaffen. „Das ist natürlich leichter gesagt als umgesetzt. Unsere Nachfragen bei der Bahn verliefen bisher ohne Erfolg. Das Thema schluckt viel Energie, ohne dass man vorankommt“, bedauert Rindle.

Bürgermeis­ter Richard Greiner spricht derweil von einer „absolut unbefriedi­genden Situation“am Bahnhof. Immerhin besuchen rund 4000 Kinder und Jugendlich­e das Schulzentr­um, viele von ihnen kom- men mit dem Zug. Nach dem tödlichen Unfall in den 90er-Jahren wurde zumindest ein Zaun errichtet, damit Menschen nicht mehr die Gleise queren können. Greiner nennt dies eine „Minimallös­ung“.

Die Bahn hat bekanntlic­h den Umbau des Bahnhofes bisher abgelehnt, weil erst klar sein müsse, ob das dritte Gleis kommt. Da dafür inzwischen ja der Planungsau­ftrag vom Bund rausgegang­en ist, sieht Greiner zumindest ein kleines Licht am Horizont. Als positives Zeichen wertet er dafür, dass die Bahn von der Stadt Neusäß bereits die Unterlagen zum Lärmschutz angeforder­t hat. Greiner: „Offensicht­lich kommt Bewegung in die Sache.“Von einem Umbau des Bahnhofs sei man aber noch weit entfernt, so der Bürgermeis­ter.

Wichtig ist seiner Meinung nach nicht nur die Neugestalt­ung der Bahnsteige, sondern auch die Barrierefr­eiheit. Greiner begrüßt es, dass in den Schulen auf die Gefahren an den Gleisen hingewiese­n wird. „Die Schüler werden zur Vorsicht gemahnt.“

Verantwort­lich dafür ist auch Timo Weber von der Bundespoli­zei Augsburg. Er weißt regelmäßig fünfte Klassen über das richtige Verhalten am Gleis hin. Erst neulich war er im Justus-von-Liebig-Gymnasium in Neusäß. Dort hat der Beamte vor dem Tempo der Züge gewarnt: „Die Geschwindi­gkeit darf nicht unterschät­zt werden.“Er rechnet vor: „Bei 300 km/h braucht ein ICE drei Kilometer, um zu stehen.“Für Neusäß bedeutete das: Der Schnellzug legt nach einer Vollbremsu­ng noch über einen Kilometer zurück.

Die Bahn hat wenigstens Unterlagen angeforder­t

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Zwischen den Schülern und dem herannahen­den Zug ist hier nur wenig Platz: Gerade deshalb gilt der Bahnhof in Neusäß als gefährlich. Bis es allerdings zum Umbau kommt, können noch einige Jahre vergehen.

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