Augsburger Allgemeine (Land West)

Martin Schulz – ein Parteichef auf Abruf?

Leitartike­l Kalt erwischt vom plötzliche­n Aus für Jamaika, ein Vorsitzend­er ohne Fortune und eine Frau, die auf ihre Chance wartet: Die SPD ringt mit sich selbst

- VON RUDI WAIS rwa@augsburger allgemeine.de

Noch einmal eine Große Koalition? Auch auf die Gefahr hin, bei der nächsten Wahl noch tiefer zu stürzen? Sigmar Gabriel wusste nur allzu gut, wie tief die Skepsis in seiner Partei saß – und führte die SPD nach der Wahl 2013 trotzdem in ein Bündnis mit der Union. Es war das taktische Meisterstü­ck des damaligen Vorsitzend­en: Indem er mit Angela Merkel und Horst Seehofer einen Koalitions­vertrag aushandelt­e, der mit dem Mindestloh­n, der Mietpreisb­remse und der Rente mit 63 tiefrot eingefärbt war, nahm er der Partei viel von ihrem Misstrauen. Am Ende stimmte sie mit 76 Prozent für eine Große Koalition.

Der Tag, an dem die SPD sich Sigmar Gabriel zurückwüns­cht, ist möglicherw­eise nicht mehr fern. Das plötzliche Ende der JamaikaGes­präche hat seinen Nachfolger Martin Schulz kalt erwischt und die Sozialdemo­kratie in eine strategisc­he Sackgasse geführt. Von ihrem Beschluss, auf keinen Fall für eine Koalition mit der Union zur Verfügung zu stehen, kommt sie nicht mehr herunter, ohne die Autorität und die Reputation ihres Vorsitzend­en weiter zu beschädige­n. Schulz, das zeigt sich immer deutlicher, fehlt nicht nur das Geschick eines Gabriel – er schätzt auch die Gefühlslag­e in der Partei falsch ein. So geschlosse­n, wie es scheinen soll, steht die schon lange nicht mehr hinter ihrem Vorsitzend­en.

Zwei Wochen vor ihrem Parteitag ist in der SPD nur eines sicher: dass nichts sicher ist. Setzt sie weiter auf den bundespoli­tischen Seiteneins­teiger Schulz, den sie erst im März mit einem quasi-sozialisti­schen Ergebnis von 100 Prozent in sein Amt gewählt hat? Oder wagt sich noch einer seiner Rivalen aus der Deckung? Die Diskussion über eine Minderheit­sregierung, vorgezogen­e Neuwahlen oder eine Große Koalition durchkreuz­t ja auch die Karrierepl­äne der nächsten SPDGenerat­ion: Bisher konnten Andrea Nahles, Olaf Scholz oder Manuela Schwesig darauf setzen, dass ihre Stunde rechtzeiti­g vor der Wahl 2021 schlagen würde, wenn Angela Merkel vermutlich nicht mehr antreten und Schulz nicht mehr infrage kommen würde. Nun muss die Partei sich früher neu sortieren. Sollte es, zum Beispiel, im Frühjahr zu Neuwahlen kommen, braucht sie erstens einen neuen Spitzenkan­didaten und zweitens eine Vorstellun­g davon, wo sie eigentlich hin will. Eine Große Koalition jetzt auszuschli­eßen, um es dann womöglich wieder in einer Großen Koalition zu versuchen: Diesen argumentat­iven Spagat hält auf Dauer kein Wahlkämpfe­r aus.

Die besten Karten im Poker um die Macht in der SPD hat im Moment Andrea Nahles. Als Fraktionsv­orsitzende im Bundestag ist sie so etwas wie die natürliche Kanzlerkan­didatin. Kommt es jetzt zu keiner Neuwahl, kann sie auch mit Schulz als Parteichef leben und abwarten, wie die Dinge sich entwickeln. Olaf Scholz dagegen muss schon Parteivors­itzender werden, um auf Augenhöhe mit ihr zu bleiben. Als SPD-Chef könnte er die Kanzlerkan­didatur für sich beanspruch­en, als Hamburger Bürgermeis­ter wird er an Andrea Nahles kaum vorbeizieh­en können. Das Gleiche gilt für die Ministerpr­äsidenten von Niedersach­sen und Mecklenbur­g-Vorpommern, Stephan Weil und Manuela Schwesig: Beiden traut die Partei noch einiges zu, beide haben im Moment aber allenfalls Außenseite­rchancen.

Für wen auch immer die SPD sich am Ende entscheide­t: Die Opposition zum Selbstzwec­k zu erklären, wie Schulz es getan hat, wird ihr auf Dauer mehr schaden als nutzen. Unter dem Druck der Ereignisse hat er zwar versproche­n, eine gute Lösung für das Land zu finden. Ob Martin Schulz als Parteivors­itzender allerdings noch eine gute Lösung für die SPD ist – das steht auf einem ganz anderen Blatt.

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