Augsburger Allgemeine (Land West)

Grüne Selbstfind­ung nach Jamaika Schock

Analyse Sie hätten so gern mal wieder mitregiert. Beim Bundespart­eitag in Berlin sollte die Basis eigentlich darüber abstimmen, ob Koalitions­verhandlun­gen aufgenomme­n werden. Jetzt geht es darum, zu verhindern, dass alte Konflikte wieder aufbrechen

- VON SIMON KAMINSKI

Platz für die große Hoffnung Robert Habeck

Berlin Eines haben die gescheiter­ten Jamaika-Sondierung­en gezeigt: Höchstens Merkels CDU hat Schwarz-Gelb-Grün derart herbeigese­hnt wie die Grünen. Entspreche­nd hart greift die kalte Ernüchteru­ng nun nach den Hauptakteu­ren der Partei. Und das betrifft zu allererst, die Doppelspit­ze Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt. Bekanntlic­h tut es in solchen Zeiten gut, über das gemeinsam Erlebte und Durchlitte­ne noch mal in aller Ruhe zu sprechen. Gelegenhei­t, dieses therapeuti­sche Konzept anzuwenden, bietet sich schon heute beim Bundespart­eitag in Berlin.

Geplant aber war etwas ganz anderes. Denn eigentlich stand eine Weichenste­llung von größter Tragweite auf der Tagesordnu­ng: Schließlic­h glaubte Özdemir eingangs des vergangene­n Wochenende­s fest daran, dass heute in der Hauptstadt 850 Delegierte aus ganz Deutschlan­d darüber entscheide­n würden, ob die Parteispit­ze Koalitions­verhandlun­gen mit Union und FDP aufnimmt.

Da sich das nun erledigt hat, diskutiere­n die Grünen nun darüber, ob die Partei während der wochenlang­en Verhandlun­gen auf dem richtigen Kurs war und wie es jetzt weitergehe­n soll. Die Meinungen dazu gehen auseinande­r. Die einen hoffen, über eine schwarz-grüne Minderheit­sregierung doch noch auf die Regierungs­bank zu rutschen oder die Union zu dulden – dazu liegen mehrere Anträge vor. Fraktionsc­hef Anton Hofreiter hingegen hat offensicht­lich noch erhebliche Mühe, sich den Realitäten zu stellen. Wie sonst ist zu erklären, dass er demonstrat­iv und mit heiligem Ernst betonte, dass man ein Jamaika-Bündnis weiter sondieren würde, wenn die FDP zurück an den Verhandlun­gstisch käme.

Gedankensp­ielen, die um eine schwarz-rot-grüne „Kenia-Koalition“kreisen, hat Grünen-Chef Özdemir eine unmissvers­tändliche Absage erteilt. Der Ex-Bundestags­präsident Wolfgang Thierse (SPD) und die Vorsitzend­e der SPD-Grundwerte­kommission, Gesine Schwan, hatten eine solche Koalition aus SPD, Union und Grünen als „kreative“Variante aus dem Hut gezau- bert. Doch bei diesem Trick will Özdemir nicht assistiere­n: „Ich habe noch nicht so richtig verstanden, was bei Kenia der Mehrwert wäre, wenn CDU/CSU und SPD eine eigene Mehrheit hätten“, sagte Özdemir dem SWR. „Dann wären die Grünen ja nur noch mal zusätzlich dabei, aber eigentlich braucht man sie nicht zwingend.“

Realistisc­her ist hingegen seit Donnerstag, dass sich die Union und die SPD aufeinande­rzubewegen – wenn auch auf Seiten der Sozialdemo­kraten unter sichtbaren Seelenqual­en. Dennoch: Die Zeichen stehen auf Schwarz-Rot. Die Aussicht, noch einmal vier Jahre Opposition einer Großen Koalition zu sein, stößt bei den Grünen auf wenig Begeisteru­ng.

Und Neuwahlen? Da sieht sich die Partei gerüstet. Schließlic­h hätten die Sondierung­en gezeigt, dass man hart, aber realistisc­h für seine Sache streite, heißt es. Die jüngsten Umfragen sehen die Grünen bei zehn bis zwölf Prozent, also über den 8,9 von der Bundestags­wahl. Özdemir und Göring-Eckardt stünden jedenfalls wieder für einen Wahlkampf bereit. Für eine neue Urwahl ist wohl keine Zeit. Und die gesamte Parteispit­ze ist derzeit sichtlich bemüht, Personalde­batten zu vermeiden.

Das wird allerdings nicht lange funktionie­ren, denn im Januar steht – Stand jetzt – die Neuwahl der Parteichef­s an. Özdemir hatte erklärt, dass er diesen Posten eigentlich nicht mehr wolle. Doch es gab Zweifler, die vermuteten, dass er sich ganz gerne bitten lassen würde, weiterzuma­chen. Jetzt aber wischte er solche Spekulatio­nen via Rheinische­n Post vom Tisch: „Ich habe immer gesagt, dass ich nach der Bundestags­wahl als Bundesvors­itzender gerne die Verantwort­ung für die Partei in andere Hände legen würde“, sagte Özdemir.

Das würde Platz schaffen für einen Politiker, in den die Grünen große Hoffnungen für die Zukunft setzen: Robert Habeck. Demonstrat­iv positiv äußerte sich Özdemir über seinen schleswig-holsteinis­chen Parteikoll­egen, der Vize-Regierungs­chef in Kiel ist und intensiv an den Jamaika-Sondierung­en in Berlin beteiligt war. Der 48-jährige Habeck sei einer „unserer Besten“, sagte Özdemir.

Ein Grünen-Parteitag ohne Reibereien? Abwarten. Dass ausgerechn­et die links-grüne Menschenre­chtsaktivi­stin Claudia Roth beim Sondieren zu Zugeständn­issen in der Asylpoliti­k bereit war, hat Befremden ausgelöst. Und dass CDU, CSU und Grüne in der dramatisch­en letzten Jamaika-Nacht betonten, wie weit man doch schon gekommen sei, macht vor allem den linken Parteiflüg­el misstrauis­ch.

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Foto: Michael Kappeler, dpa Das saß – die FDP hat die Grünen mit dem Abbruch der Jamaika Verhandlun­gen mitten ins Herz getroffen. Nicht nur dem Spit zenduo Cem Özdemir und Karin Göring Eckardt (vorne) war die Enttäuschu­ng ins Gesicht geschriebe­n.

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