Augsburger Allgemeine (Land West)
Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (13)
Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentliche Lebens bestimmung ist: Organe zu spenden. © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlags gruppe Random House GmbH. Übersetzung: Barbara Schad
Wenn der Laster in den Hof einbog, wartete schon eine ungeduldige Menge – vor allem Schüler der Junior-Klassen, denn jenseits von zwölf oder dreizehn galt es als uncool, seine Begeisterung so offen zu zeigen. Begeistert waren natürlich trotzdem alle.
Im Rückblick kommt mir unsere Aufgeregtheit komisch vor, denn fast immer war der Basar eine große Enttäuschung. Was dort angeboten wurde, konnte man wirklich nicht als etwas Außergewöhnliches bezeichnen, und so opferten wir unsere Marken, um verschlissene oder zerrissene Klamotten durch eine neuere Version derselben zu ersetzen. Aber der Punkt war der, glaube ich, dass wir alle irgendwann einmal etwas Besonderes gefunden hatten, etwas, das uns sehr ans Herz gewachsen war: eine Jacke, eine Uhr, eine Bastelschere, die nie benutzt, aber stolz unter dem Bett verwahrt wurde. Wir alle hatten auf einem Basar einen Schatz gefunden, und auch wenn wir noch so sehr versuchten, uns nichts anmerken zu lassen, konnten wir die alten Gefühle der Hoffnung und Aufregung nie mehr ganz abschütteln.
Es war ja auch spannend, wenn sich alle beim Ausladen um den Lieferwagen scharten. Falls man noch zur Unterstufe gehörte und es sich erlauben konnte, heftete man sich an die Fersen der beiden Männer in Overalls, die Pappkartons zwischen dem Wagen und dem Vorratslager hin- und her schleppten, und fragte, was darin sei. „Ein Haufen toller Sachen, Schätzchen“, lautete gewöhnlich die Antwort. Und wenn man nicht lockerließ und fragte: „Aber ist es eine Rekordausbeute?“, fingen sie irgendwann zu grinsen an und sagten: „Das möcht ich meinen, Schätzchen. Eine echte Rekordausbeute“, womit sie ein begeistertes Johlen auslösten.
Häufig waren die Schachteln oben offen, so dass man einen Blick hineinwerfen konnte und alles mögliche Verlockende darin entdeckte, und manchmal, obwohl sie das ei- gentlich nicht durften, ließen einen die Männer ein paar Sachen zur Seite schieben, damit man darunter noch mehr zu sehen bekam. Und wenn dann eine oder zwei Wochen später der eigentliche Verkauf stattfand, waren natürlich schon alle möglichen Gerüchte im Umlauf – vielleicht über einen speziellen Trainingsanzug oder eine Musikkassette –, und wenn es zu Streitereien kam, dann fast immer nur deshalb, weil mehrere Kollegiaten ihr Herz an ein und denselben Gegenstand gehängt hatten.
Die Stimmung auf dem Basar war das genaue Gegenteil der gedämpften Atmosphäre der Tauschmärkte. Er fand im Speisesaal statt und war ein einziges lärmendes Durcheinander. Tatsächlich machte das Schieben und Rempeln und Rufen einen Teil des Vergnügens aus, und meistens blieb es ja ganz friedlich. Aber manchmal, wie gesagt, lief es auch aus dem Ruder, es wurde gezerrt und gerangelt, und manchmal kam es sogar zu einer Rauferei. Dann drohten die Aufseher mit dem sofortigen Ende der gesamten Veranstaltung, und am nächsten Morgen mussten wir alle einen Vortrag von Miss Emily über uns ergehen lassen.
Unser Tag in Hailsham begann stets mit einer Versammlung, die in der Regel nicht lang dauerte – ein paar Bekanntmachungen, vielleicht verlas ein Schüler auch noch ein Gedicht. Miss Emily sprach nur wenig, sie saß kerzengerade auf der Bühne, nickte zu allem, was gesagt wurde, und richtete gelegentlich einen frostigen Blick auf jene Kollegiaten, die einander etwas zuflüsterten. Anders war es, wenn es tags zuvor auf einem Basar zum Tumult gekommen war: Dann wies sie uns an, auf dem Fußboden Platz zu nehmen – normalerweise standen wir bei Versammlungen –, die Bekanntgaben und Gedichtvorträge entfielen, und stattdessen hielt Miss Emily eine Rede, die zwanzig, dreißig Minuten, manchmal noch länger dauerte. Sie hob selten die Stimme, trotzdem war dann etwas Stahlhartes an ihr, und keiner von uns, nicht mal die Schüler aus Senior 5, wagte einen Mucks von sich zu geben.
Wir hatten echte Schuldgefühle, weil wir, kollektiv sozusagen, Miss Emily enttäuscht hatten; aber wie sehr wir uns auch bemühten, konnten wir ihren Predigten nicht so recht folgen. Das lag zum Teil an ihren Formulierungen. „Jedweden Privilegs unwürdig“und „Missbrauch von Chancen“: Das waren die Formulierungen, die Ruth und mir als Erstes einfielen, als wir in ihrem Zimmer in Dover gemeinsam unsere Erinnerungen an Hailsham wachriefen. Der allgemeine Tenor ihrer Rede war klar genug: Als Hailsham-Kollegiaten seien wir alle etwas Besonderes, und deshalb sei es umso enttäuschender, wenn wir uns nicht anständig benähmen. Aber davon abgesehen wurde alles nebelhaft. Manchmal sprach sie lange und eindringlich und unterbrach sich dann plötzlich mit einem Ausruf wie: „Was ist es? Was ist es? Was kann es sein, das unsere Pläne durchkreuzt?“Dann stand sie da, mit geschlossenen Augen und gerunzelter Stirn, als ringe sie um die Lösung des Rätsels. Und wir saßen da, verwirrt und betreten, und wünschten ihr innigst, dass sie die Antwort finden möge. Nach einer Weile stieß sie einen kleinen Seufzer aus und fuhr mit ihrer Rede fort – ein Zeichen, dass uns vergeben würde –, doch es kam auch vor, dass sie aus dem Schweigen herausplatzte: „Aber ich werde mich nicht nötigen lassen, o nein! Und Hailsham ebenso wenig!“
Im Zusammenhang mit diesen langen Ansprachen merkte Ruth einmal an, wie merkwürdig es doch sei, dass diese so unergründlich und kryptisch waren, denn im Unterricht wusste Miss Emily sich durchaus klar und verständlich auszudrücken. Als ich erwähnte, ich hätte die Oberin manchmal in Hailsham wie in Trance und Selbstgespräche führend umherwandern sehen, protestierte Ruth vehement: „Nein, so war sie nicht! Wie hätte Hailsham sein können, was es war, wenn die verantwortliche Leiterin eine Verrückte gewesen wäre! Miss Emily hatte einen so scharfen Verstand, dass du damit hättest Baumstämme zersägen können.“
Ich widersprach nicht. Fest steht, dass Miss Emily uns auf geradezu unheimliche Art durchschaute. Wenn man sich zum Beispiel irgendwo im Hauptgebäude oder auf dem Gelände herumtrieb, wo man nichts verloren hatte, und einen Aufseher nahen hörte, konnte man sich leicht verstecken. Hailsham war voller Verstecke, im Haus und im Freien: Wandschränke, Winkel, Büsche, Hecken. Aber wenn man Miss Emily herannahen sah, sackte einem das Herz in die Hose, denn sie fand einen immer. Als hätte sie einen zusätzlichen Sinn. Auch wenn man sich in einen Schrank verdrückte, die Tür fest schloss und keinen Muskel rührte, konnte man sicher sein, dass Miss Emilys Schritte direkt vor der Tür Halt machten und ihre Stimme sagte: „Also gut. Raus mit dir.“
Sylvie C. ist das einmal passiert, im Flur des zweiten Stocks, als Miss Emily einen Wutanfall erlitt. Zwar fing unsere Oberin im Unterschied zu Miss Lucy nie an zu schreien, aber ihre Wut war noch viel Furcht erregender. »14. Fortsetzung folgt