Augsburger Allgemeine (Land West)
Wem helfen? Und wie?
Serie Seit 50 Jahren gilt die Genfer Flüchtlingskonvention weltweit. Doch damals wie heute: Gerade die dadurch nicht geregelte Migration sorgt für Probleme. Über Europa, die beiden Seiten der Grenzen und die Ströme der Zukunft
Die aktuelle Meldung zur Flüchtlingskrise der Zukunft: Neuseelands Regierungschefin hat angekündigt, eine neue Visums-Kategorie einzuführen – für Menschen mit dem Fluchtgrund Folgen des Klimawandels. Jacinda Ardern hält das für ein Gebot der Mitmenschlichkeit und stellt damit global eine große Frage: Wie soll die Weltgemeinschaft mit den laut Experten wohl hunderten Millionen Menschen allein in den kommenden 20 Jahren umgehen, die ihre Heimat verlieren aufgrund eines Klimawandels, der meist am allerwenigsten von ihnen selbst mitverantwortet wurde?
Seit 50 Jahren steht geschrieben: Es gibt Krisen, in denen darf mitmenschliche Solidarität nicht an Länder- und Kulturgrenzen haltmachen. So legt es die Erweiterung der Genfer Flüchtlingskonvention fest, als Verpflichtung zur Hilfe in aktuellen Krisen weltweit. Im UrDokument 16 Jahre zuvor war der Vertrag noch auf Europa beschränkt und auf Flucht infolge von Ereignissen vor dem Jahr 1951. 145 Staaten sind also heute im Prinzip mitverantwortlich für die Unterstützung der Opfer von Krieg und der Verfolgung.
Aber so wenig wie bislang das Klima Erwähnung findet, so wenig ist je von Hunger, wirtschaftlicher Not und Perspektivlosigkeit die Rede gewesen. Und damit blieben freilich auch schon 1967 die meisten Fragen der Migration durch die Konvention unbeantwortet – wie sie es auch heute sind, wo rund 65 Millionen Menschen weltweit auf der Flucht sind, größtenteils nicht aus durch Genf gedeckten Gründen, und wo die Ankunft auch nur eines Kleinstteils der Flüchtlinge zu gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen gerade auch in Europa führt. Obwohl der Erdteil doch immer schon von Fluchtbewegungen geprägt war und nie lange eine stabile Gestalt hatte, auf die sich dessen Verteidiger nun so gerne berufen.
„Vertriebene“, „Umsiedler“, „Gastarbeiter“– wie sehr etwa diese Millionenbewegungen die Gesichter von Ländern im modernen Europa immer wieder anders geprägt haben, das ist im neuen Buch des Wiener Historikers Philipp Ther nachzulesen – mit all den jeweiligen Schwierigkeiten. Das relativiert – wie es der Blick in die Geschichte oft so wohltuend vermag – aktuelle Hysterien, einerseits. Aber anderer- markiert der Autor eben doch auch sich aus dem Vergleich ergebende Befunde über das Heute. „Wie die jeweiligen Flüchtlinge behandelt wurden, hing bereits in früheren Epochen weniger von deren Vorgeschichte und Verfolgungsschicksal, sondern vielmehr von den Einstellungen der Aufnahmegesellschaft und ihrer politischen Eliten ab … Neu in der Zeit der postmodernen Massendemokratie ist indes, dass ein Teil der politischen Eliten und immer häufiger Regierungen Flüchtlinge nutzen, um durch unverhohlenen Populismus Stimmung zu machen und die Bevölkerung für Wahlkampfzwecke aufzuhetzen.“
Was sie sich dabei laut Ther zunutze machen können: Es gibt gegenüber den heutigen Migranten weder „Solidaritätslinien“, die deren Schicksal in einem gemeinsamen Krisenbezug stellen wie etwa bei den Vertriebenen, noch gibt es einen „Bedarf“an ihnen wie bei den Gastarbeitern, weil heute gerade im Niedriglohnsektor eh schon Konkurrenz droht. Darum könne sich ein Aufnahmestaat wie Deutschland nur auf den Humanismus seiner Bevölkerung stützen – und da wachse, gerade wenn eine Integration bei außereuropäischen Wurzeln schwerer werde, bei allen moralischen Einwänden in Umfragen doch der Zweifel, wie lange das halten könne. Und noch mal Beispiel Deutschland: Was wäre von dieser Stimmung noch übrig, wenn das Land nicht wirtschaftlich so gut dastünde, dass es für die Versorgung der Flüchtlinge allein in den Haushaltsjahren 2016/17 43 Milliarden Euro veranschlagen konnte, ohne dadurch selbst in Not zu geraten?
Der Historiker konstatiert – der Philosoph versucht Antworten. Es ist der Münchner Julian Nida-Rümelin, einst Kulturstaatsminister der SPD, mit dem Entwurf seines Buches „Über Grenzen denken“, dieses Jahr durchaus auch in den Inseits stitutionen der CDU gefragt. Denn er betont darin, dass die Öffnung der Grenzen und die Aufnahme der Flüchtlinge eben nicht die Lösung sein könne, weil sie nur wenigen helfe, dazu jenen, die sich eine Flucht leisten könnten und damit nicht den Ärmsten, und weil mit dem dafür nötigen Geld in den Krisenländern selbst viel mehr bewirkt werden könnte. Thers 43 Milliarden im deutschen Haushalt – laut NidaRümelin beziffert die Weltbank die Kosten, den Hunger weltweit zu beenden, auf Investitionen von nur 30 bis 40 Milliarden Dollar!
Die aktuellen Verhandlungen zwischen europäischen Aufnahmeund den Herkunftsländern zielen darauf ab, die Fluchtursachen bloß insofern zu bekämpfen, als dort die Migranten auf ihrem Zug in den wohlhabenden Norden gestoppt werden. Der Philosoph aber ist überzeugt, dass eine Lösung nur über eine „fairere Welt“führen kann. Das heißt: Schluss etwa mit der skrupellosen Ausbeutung der Bodenschätze dort und mit dem Protektionismus der Märkte und Produzenten hier; womöglich auch Ausgleichszahlungen für den Fall, dass von dort die dringend benötigten ausgebildeten Facharbeiter hierher geholt werden … Mit Nida-Rümelin jedenfalls müssen die Grenzen hart bleiben, denn Migration sei keine Lösung. Es helfe allein eine gemeinsame globale Verantwortung bei gewahrten nationalen Identitäten. Diese Vision überzeugt viele. Sie wirkt realistisch – sie setzt implizit aber sehr viel allgemeinen Willen zur wirtschaftlichen Fairness voraus, allein um die aktuellen Probleme anzugehen, wo sich doch gerade wieder der Egoismus der jeweiligen Marktinteressen verschärft. Allerdings bietet diese Vision für die künftigen Klimaflüchtlinge noch keinen Ansatz.
Und dann ist da noch die andere Seite der Grenze. Von dort blickt dem westlichen Wohlstandsdenker Nida-Rümelin Afrikas profiliertester Krisendenker Achille Mbembe entgegen. Wer dessen neustes Werk „Politik der Feindschaft“liest, entdeckt den blinden Fleck der hiesigen Analysen. Wo aktuell die Rücküberweisungen von migrierten Arbeitern ein Vielfaches der Entwicklungshilfe an Devisen in jene Länder bringen – welchen Grund sollten diese Länder haben, den westlichen Kooperations- und Lösungsversprechen zu glauben? Afrika etwa hat erlebt, dass sich jene Wohlstandsdemokratien in der Geschichte außerhalb ihrer Staaten ohne moralische Skrupel auf Sklaverei, verbrecherischen Kolonialismus und Ausbeutung gestützt haben. Und jetzt soll die Wende zur kosmopolitischen Vernunft kommen?
Die jetzigen Signale, von dort aus gelesen, bedeuten: Der Westen will schlicht alles tun, um sich die fremde Not, in deren Entstehung er geschichtlich verstrickt ist, mal wieder vom Hals zu halten. Der Westen hat Angst, weil sich die Bevölkerung Afrikas in den kommenden 20 Jahren noch verdoppeln soll. Der Westen wird kooperieren mit wem auch immer, demokratisch oder diktatorisch, Hauptsache Problemlöser, Problemlöser des Westens. Das macht Nida-Rümelins Lösung nicht untauglich. Es zeigt nur, wie viel mehr als nur Geld nötig sein wird.