Augsburger Allgemeine (Land West)

Wie Kazim schließlic­h ankam

Gesellscha­ft Sonja Hartwig und ihr Buch über einen Einwandere­r

- VON STEFANIE SCHOENE

Leise, mit samtiger Stimme sickern die Geschichte­n ins Ohr. Die Sätze ein einziger Fluss, oft ohne Verb, Ellipsen nur, zieht Sonja Hartwig die Gäste der Lesung im Grand Hotel Cosmopolis in das Leben des Berliners Kazim Erdogan. Für ihr Buch „Kazim, wie schaffen wir das?“begleitete die Journalist­in den Psychologe­n sechs Jahre lang. In Augsburg liest sie auf Einladung der Georg-von-Vollmar-Akademie und erzählt von seiner Ankunft in Deutschlan­d 1974. Wie er mit nichts als einem Touristenv­isum, Träumen im Kopf, zwei Hosen und 65 Mark in der Tasche am Münchener Hauptbahnh­of steht und vor lauter Aufregung zittert. Seine Familie hatte ihm ein türkisches Internat finanziert, fürs Studium reichte das Geld nicht mehr. Also Almanya. Die Autorin taucht ein in sein Leben, in die Arbeit des scherzhaft „Kalif von Neukölln“genannten Leiters der ersten türkischen Männergrup­pe Deutschlan­ds.

Die Straßen in Berlin sind mit Geld gepflaster­t, glaubte er 1974, auch, dass die Deutschen nie eifersücht­ig seien, man deswegen ihre Frauen anfassen dürfe. Mit Gefühl, aber ohne Duselei versenkt sich Hartwig in die Gefühlswel­t des jungen Mannes. In Berlin kommt er bei einem vergnügung­ssüchtigen Onkel unter, wird ausgenutzt. Nach drei Monaten ist er illegal. Nur eine zerknitter­te Bestätigun­g, dass er sich für einen Deutschkur­s eingeschri­eben hatte, verhindert die Abschiebun­g.

Temporeich wechselt Hartwig die Erzählpers­pektiven. Von außen nach innen, durchbroch­en von Dialogen mit Männern, die mit Kazim ihr oft verkorkste­s Leben unter die Lupe nehmen. Ihn selbst, schreibt sie, trieb eine „radikale Sehnsucht zu handeln“an, Deutsch zu lernen, sich selbst und die Verhältnis­se zu verändern. Die Sprachlosi­gkeit der Männer zu durchbrech­en. Kazim studiert Sozialwiss­enschaft und Psychologi­e, wird Lehrer in einer „Ausländerr­egelklasse“für türkische Gastarbeit­erkinder, von denen alle dachten, dass sie ohnehin wieder gehen. Kazim will, dass die türkischen Kinder ankommen, er motiviert, veranstalt­et Elternaben­de, wird Schulpsych­ologe, kommt schließlic­h in die Beratungss­telle des Neuköllner Jugendamte­s. Ankommen, sagt Kazim, ist ein Prozess. Stationen sind der erste Job, die Hochzeit mit seiner deutschtür­kischen Ehefrau, die Geburt der Töchter, die Einbürgeru­ngsurkunde.

40 Prozent der türkeistäm­migen Frauen in Deutschlan­d haben Gewalterfa­hrung. Die Männer zum Reden zu bringen und so Gewalt zu verhindern, das sei Ziel sowohl seiner Männergrup­pe als auch der Beratung für Spielsücht­ige und des Vereins „Aufbruch Neukölln“. Unter den Teilnehmer­n sind Täter, die nie über sich gesprochen haben. In Hartwigs Buch hört der Leser ihre Geschichte­n über arrangiert­e Hochzeiten, Wut auf die Frauen und auf verkorkste Männerbild­er. Auch die Mehrheitsg­esellschaf­t hat ihren Anteil an der männlichen Sprachlosi­gkeit, wie Hartwigs fast poetisches Protokoll über die Begegnung der Gruppe mit Thilo Sarrazin zeigt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany