Augsburger Allgemeine (Land West)
Wie Kazim schließlich ankam
Gesellschaft Sonja Hartwig und ihr Buch über einen Einwanderer
Leise, mit samtiger Stimme sickern die Geschichten ins Ohr. Die Sätze ein einziger Fluss, oft ohne Verb, Ellipsen nur, zieht Sonja Hartwig die Gäste der Lesung im Grand Hotel Cosmopolis in das Leben des Berliners Kazim Erdogan. Für ihr Buch „Kazim, wie schaffen wir das?“begleitete die Journalistin den Psychologen sechs Jahre lang. In Augsburg liest sie auf Einladung der Georg-von-Vollmar-Akademie und erzählt von seiner Ankunft in Deutschland 1974. Wie er mit nichts als einem Touristenvisum, Träumen im Kopf, zwei Hosen und 65 Mark in der Tasche am Münchener Hauptbahnhof steht und vor lauter Aufregung zittert. Seine Familie hatte ihm ein türkisches Internat finanziert, fürs Studium reichte das Geld nicht mehr. Also Almanya. Die Autorin taucht ein in sein Leben, in die Arbeit des scherzhaft „Kalif von Neukölln“genannten Leiters der ersten türkischen Männergruppe Deutschlands.
Die Straßen in Berlin sind mit Geld gepflastert, glaubte er 1974, auch, dass die Deutschen nie eifersüchtig seien, man deswegen ihre Frauen anfassen dürfe. Mit Gefühl, aber ohne Duselei versenkt sich Hartwig in die Gefühlswelt des jungen Mannes. In Berlin kommt er bei einem vergnügungssüchtigen Onkel unter, wird ausgenutzt. Nach drei Monaten ist er illegal. Nur eine zerknitterte Bestätigung, dass er sich für einen Deutschkurs eingeschrieben hatte, verhindert die Abschiebung.
Temporeich wechselt Hartwig die Erzählperspektiven. Von außen nach innen, durchbrochen von Dialogen mit Männern, die mit Kazim ihr oft verkorkstes Leben unter die Lupe nehmen. Ihn selbst, schreibt sie, trieb eine „radikale Sehnsucht zu handeln“an, Deutsch zu lernen, sich selbst und die Verhältnisse zu verändern. Die Sprachlosigkeit der Männer zu durchbrechen. Kazim studiert Sozialwissenschaft und Psychologie, wird Lehrer in einer „Ausländerregelklasse“für türkische Gastarbeiterkinder, von denen alle dachten, dass sie ohnehin wieder gehen. Kazim will, dass die türkischen Kinder ankommen, er motiviert, veranstaltet Elternabende, wird Schulpsychologe, kommt schließlich in die Beratungsstelle des Neuköllner Jugendamtes. Ankommen, sagt Kazim, ist ein Prozess. Stationen sind der erste Job, die Hochzeit mit seiner deutschtürkischen Ehefrau, die Geburt der Töchter, die Einbürgerungsurkunde.
40 Prozent der türkeistämmigen Frauen in Deutschland haben Gewalterfahrung. Die Männer zum Reden zu bringen und so Gewalt zu verhindern, das sei Ziel sowohl seiner Männergruppe als auch der Beratung für Spielsüchtige und des Vereins „Aufbruch Neukölln“. Unter den Teilnehmern sind Täter, die nie über sich gesprochen haben. In Hartwigs Buch hört der Leser ihre Geschichten über arrangierte Hochzeiten, Wut auf die Frauen und auf verkorkste Männerbilder. Auch die Mehrheitsgesellschaft hat ihren Anteil an der männlichen Sprachlosigkeit, wie Hartwigs fast poetisches Protokoll über die Begegnung der Gruppe mit Thilo Sarrazin zeigt.