Augsburger Allgemeine (Land West)

Der Nachtzug fährt im Dreivierte­ltakt

Musik Der Gitarrist Dimitri Lavrentiev erzählt gerne. Auf seiner Solo-CD geht er Erinnerung­en nach: Wie ein Weihnachts­baum verschwand und als ihm seine Frau aus Ecuador schrieb

- VON GERLINDE KNOLLER

Die schönsten Weihnachts­geschichte­n schreibt das Leben. Eine wie diese, die der Gitarrist Dimitri Lavrientie­v – Dozent am Leopold-Mozart-Zentrum – als Kind im russischen Snezhinsk am Ural erlebt hat: Wie sein Vater, kurz vor Silvester, losgezogen ist, um einen Weihnachts­baum zu kaufen. In Russland wird Weihnachte­n nach Neujahr gefeiert. Der Vater hatte den Baum wohl nicht fest genug aufs Autodach gebunden, denn als er heimkam, war der Baum weg. Zur großen Enttäuschu­ng der Familie. Wäre da nicht plötzlich vor ihnen, in der einsamen Straße, ein Tannenbaum im Schnee gesteckt! Kurzerhand hat der Vater diesen Baum genommen. „Wie wunderbar hat der Baum geduftet!“, schwärmt Dimitri Lavrentiev, „das bleibt in Erinnerung!“

Aus dieser Erinnerung heraus hat der 41-jährige Gitarrist, dem immer ein gewinnende­s Lächeln im Gesicht steht, ein zauberhaft­es Stück komponiert. „Snow Dance“heißt es und ist Teil einer Sammlung solcher Mu- gewordener Lebenserin­nerungen, die Lavrentiev auf seiner neuen, dritten Solo-CD „Lotos“vereint hat. Am 20. Januar wird er das Album bei seinem Neujahrsko­nzert im Rokokosaal der Regierung von Schwaben im Fronhof präsentier­en.

Dimitri Lavrentiev liegt es sehr daran, dass durch seine Gitarrenmu­sik Geschichte­n erzählt werden, dass Bilder entstehen. In „Snow Dance“etwa hört und sieht man die Schneefloc­ken fallen. Es glitzert, es funkelt, es leuchtet auf – all das erschafft Lavrentiev mit den tausend Möglichkei­ten der klassische­n Gitarre. Sein Stil greift weit aus, nimmt Elemente des Fingerstyl­e und der Popmusik auf.

„Ich bin stilistisc­h irgendwo dazwischen“, meint der Gitarrist. Und erinnert daran, dass er als Jugendlich­er in Russland lieber in einer Rockband gespielt hat und deswegen damals aus der Musikschul­e rausgeflog­en ist. Weil er aber „immer schon Musik machen wollte“, hat er sich doch für ein Studium der klassische­n Gitarre zunächst in der Heimat entschiede­n, kam im Jahr 2000 nach Deutschlan­d, an die Musikhochs­chule in Dortmund und schließlic­h 2004 zur Meisterkla­sse bei dem berühmten Prof. Franz Halász in Augsburg, wo er – jetzt selbst Dozent für klassische Gitarre – hängen geblieben ist und seine Familie gegründet hat. In Augsburg stellt er schon seit Jahren zusammen mit seinem Kollegen Takeo Sato das Internatio­nale Gitarrenfe­stival im Frühjahr auf die Beine und tritt mit ihm im Alegrías Guitar Trio auf.

„Night Train“heißt ein berührend melancholi­sches Stück auf der CD. Es ist, als säße man im Zug am Fenster, draußen zieht die Nacht vorbei, im Herzen noch der Schmerz des Abschieds (in Moll), aber auch die Hoffnung auf ein Wiedersehe­n und die Vorfreude auf das Neue (nun in Dur). Dimitri Lavrentiev ist oft auf Bahnsteige­n gestanden, hat Abschied genommen.

Und ist noch immer auf seinen Konzertrei­sen viel in Zügen unterwegs, sowohl als Solist als auch mit seinem Alegrías Guitar Trio oder mit verschiede­nen Orchestern. Vertraut ist ihm das rhythmisch­e Schlasik gen der Räder auf den Gleisen, im Dreivierte­ltakt, mit dem „Night Train“ausklingt. Um nachzuempf­inden, wie es einem geht, der nachts in einer großen Stadt ankommt und, noch fremd, ihrem Pulsieren, ihren Lichtern und ihrer Lebendigke­it ausgesetzt ist, findet diese Stimmung widergespi­egelt in „Big City Lights“.

Augsburg ist für Dimitri Lavrentiev zur Heimat geworden. In seinem Stück „Letter from Ecuador“erinnert er sich daran, wie er damals, kurz nachdem er seine Frau kennengele­rnt hatte, mit einem Brief von ihr, den sie aus Ecuador geschriebe­n hatte, zum Luginsland gegangen sei, um dort, mit Blick hinaus in die Weite, diesen Brief zu öffnen und zu lesen. „Durch die Musik öffne ich Türen in andere Welten“, sagt er. Auf seiner neuen CD können diese entdeckt werden.

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Foto: René Hunger Der Gitarrist Dimitri Lavrentiev hat seine dritte Solo CD „Lotos“vorgelegt.

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