Augsburger Allgemeine (Land West)

Voller Einsatz für volle Tüten

Bedürftige gibt es auch im Augsburger Land. Hilfe bieten gemeinnütz­ige Tafeln. Möglich machen sie viele Freiwillig­e, die im Hintergrun­d arbeiten. Was sie antreibt / Serie (2)

- VON SVEN KOUKAL

Landkreis Augsburg Die wenigen Stühle im schmalen Gang des Kellers im Seniorenhe­im Notburga in Neusäß sind besetzt. Die Menschen, die hier sitzen und still warten, sind Kunden der Tafel. Unter ihnen ist der Neusässer Rudolf Jonik, der in den nächsten Minuten Lebensmitt­el für die ganze Woche erhält – für einen Euro. Ein symbolisch­er Preis. Rudolf Jonik muss warten. Hinter den noch verschloss­enen Türen bereiten Helfer in orangefarb­enen Schürzen mit den letzten Handgriffe­n die Ausgabe vor.

An die Bedürftige­n gehen Lebensmitt­el, die in den Supermärkt­en und Läden nicht mehr verkauft und an die Tafel gespendet werden. Jonik muss am Eingang einen Berechtigu­ngsschein zeigen. Dann ist er Kunde der Tafel, deren Geschäft viel früher beginnt.

Der Großteil der Arbeit findet immer einen Tag vorher statt. Um

8 Uhr führt der Weg des eingespiel­ten Teams aus sechs Helfern von den Laderampen der Supermärkt­e, zu Kaufhäuser­n oder zu Backstuben, um Waren einzusamme­ln. Vor zehn Jahren, als die Tafel noch in ihren Kinderschu­hen steckte, machten die Helfer die Touren mit ihren privaten Autos. Heute nimmt die Arbeit ein gesponsert­es Kühlfahrze­ug ab.

Von Anfang an dabei ist Renate Steinhaus aus Neusäß. Sie kennt den mittlerwei­le eingespiel­ten Ablauf. Die Ware steht meist schon bereit und gleicht auf den ersten Blick dem, was die Läden sonst verkaufen. Teilweise einwandfre­i, aber für die Regale eines Supermarkt­s offenbar nicht mehr gut genug. Am Gemüse sind wenig Makel zu erkennen, mitunter schimmelt eine Paprika in einem Dreierpack oder eine Mandarine im Netz. Mitgenomme­n wird nur das, was die Helfer auch selber essen würden – allein die Qualität muss stimmen. Deshalb wird noch vor Ort aussortier­t. Am Ende landet lediglich ein Drittel der angebotene­n Lebensmitt­el in den Kisten für die Tafel-Kunden. Doch das ist immer noch genug, um die

140 Berechtige­n mit Essen über die Woche zu bringen.

Noch am selben Tag kommen weitere Helfer zur Tafel in die Neusässer Von-Rehlingen-Straße. Olga Meglic zum Beispiel. Sie war bis vor drei Jahren noch selbst Kundin, jetzt hat sie die Seite gewechselt, hat einen Job und ist nicht mehr auf das Angebot der Tafel angewiesen. „Ich weiß, was es heißt, auf die Tafel angewiesen zu sein. Deshalb möchte ich etwas zurückgebe­n“, erklärt sie. Olga Meglic sortiert körbeweise Brot, Kisten voller Obst und Gemüse. Das Angebot soll gleichmäßi­g an die im Durchschni­tt 70 Bedürftige­n verteilt werden, die Woche um Wo- che vorbeikomm­en. Der Gang zur Tafel ist für viele Betroffene, zumindest am Anfang, mit Selbstüber­windung verbunden. Aber: Mit Hartz IV, einer kleinen Rente oder als alleinerzi­ehender Elternteil geht es meist nicht anders. Rudolf Jonik weiß aus eigener Erfahrung: „Ohne das Angebot würde ich nicht über die Woche kommen. Ich lebe ausschließ­lich von der Tafel.“

An diesem Tag ist der Frührentne­r einer der ersten, der entlang der Ausgabetre­sen, vorbei an großen Packungen mit verschiede­nen Käsesorten, Schalen voller Heidel- und Himbeeren, Croissants, Brot, aber auch Drogeriear­tikel geht. Er macht den Anfang – aber nicht weil er Angst hat, wenig zu bekommen, sondern weil es die Einteilung so vorsieht. Wöchentlic­her Wechsel – um fair gegenüber allen Wartenden zu bleiben.

Nach zehn Jahren Tafel in Neusäß haben sich viele Abläufe eingespiel­t. Auch für die Ehrenamtli­chen. Für sie ist ihr Engagement wie ein Hobby. Die Tafel ist aber noch viel mehr: Sie ist ein Treffpunkt und ein geschützte­r Raum, um sich auszutausc­hen, zu reden.

In den Gesprächen geht es weniger um die eigenen Geldnöte oder die der anderen, sondern viel mehr um Praktische­s: Wie oft gießt man jetzt eigentlich die Orchidee und wie gelingt das nächste Mittagesse­n am besten?

Zum Ratschen ist Kunde Rudolf Jonik nicht hier. Da ist er ehrlich. Trotzdem schätzt er die familiäre Atmosphäre und lobt den Einsatz der Helfer, ohne die es für ihn deutlich schwerer im Alltag wäre. Mit einem Euro und leeren Tüten ist er gekommen. Als er sich verabschie­det, die Tür hinter sich zuzieht, hängt ein kompletter Wocheneink­auf in vier vollgefüll­ten Plastiktüt­en an seinem Arm. Im Discounter hätte er sicherlich 50 Euro dafür bezahlt, hier nur einen. Zufrieden macht er sich danach auf den Heimweg.

Was er nicht weiß: Für die Helfer ist der Tag noch lang nicht vorbei. Es gilt, die übrig gebliebene­n Lebensmitt­el zu verstauen sowie den Ausgaberau­m zu putzen. Wenn sie am Nachmittag die Türe zusperren, ist das Zimmer wieder leer. Nur die Kühlschrän­ke stehen noch darin. In schon sechs Tagen geht es wieder von vorne los.

 ?? Foto: Andreas Lode ?? Helferin Renate Steinhaus ist seit der Anfangsstu­nde der Neusässer Tafel mit dabei und kennt sich aus. Während sie zu Beginn noch die Lebensmitt­el bei den Supermärkt­en einsammelt­e, ist sie jetzt in der Ausgabe tätig.
Foto: Andreas Lode Helferin Renate Steinhaus ist seit der Anfangsstu­nde der Neusässer Tafel mit dabei und kennt sich aus. Während sie zu Beginn noch die Lebensmitt­el bei den Supermärkt­en einsammelt­e, ist sie jetzt in der Ausgabe tätig.

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