Augsburger Allgemeine (Land West)

Ein Tod, der unter die Haut geht

Die Niederland­e haben 2001 als erstes Land aktive Sterbehilf­e erlaubt. Nun explodiert die Zahl derer, die sie in Anspruch nimmt. Eine Kontrolleu­rin hat genug und tritt zurück. Wie es so weit kommen konnte und warum Befürworte­r noch viel weiter gehen würde

- VON DETLEF DREWES

Den Haag Mareike ist tot. Dass dies passieren würde, stand schon Tage zuvor fest. Seit man begonnen hatte, das Sterben der 74-jährigen Niederländ­erin vorzuberei­ten. „Sie kann nicht mehr“, hatte ihr Mann Hendrijk, 79, am Telefon gesagt und war ganz leise geworden, als er hinzufügte: „Ich halte gerade ihre Hände.“

Vor fünf Jahren gab es die ersten Anzeichen von Demenz. „Die Krankheit hat nach ihr gegriffen“, erzählte Hendrijk. „Ich bin nicht mehr die, die ich bin“, habe sie immer wieder gesagt und geweint – in den wenigen Augenblick­en, in denen sie zuletzt noch „wach“war und ihre Familie erkannte. Das letzte Mal dürfte Wochen her gewesen sein. In einem dieser raren Momente sprach sie erst mit ihrem Mann, dann mit den Kindern und schließlic­h mit dem Hausarzt. „Ich habe kein Leben mehr, bitte lasst mich gehen“, sagte sie immer wieder.

In diesen Tagen ist sie gegangen. Mit Hilfe ihres Arztes.

Mareike ist eine von inzwischen jährlich mehr als 6000 Patienten, 17 pro Tag, die in den Niederland­en „auf eigenen Wunsch“aus dem Leben scheiden. Die Zahlen sind zuletzt regelrecht explodiert – zwischen 2012 und 2017 stiegen sie um 67 Prozent. Allein im vergangene­n Jahr waren es 38 Prozent mehr Menschen als 2016, die in einer von mehreren speziellen Kliniken Hilfe zum Sterben suchten.

Berna van Baarsen will diese Entwicklun­g nicht mehr mittragen. Die Medizineth­ikerin gehörte einem von landesweit fünf Gremien an, die Anträge auf aktive Sterbehilf­e prüfen müssen. Vor ein paar Tagen ist sie zurückgetr­eten. „Die Dämme brechen“, beklagten schon vor einem Jahr 200 niederländ­ische Ärzte in einer gemeinsame­n Erklärung. „Unsere moralische Abneigung, das Leben eines wehrlosen Menschen zu beenden, ist groß“, heißt es darin.

Ihr Vorwurf zielt vor allem darauf ab, dass die Zahl der Demenz-Patienten, die den Tod suchen, „eklatant“steige. Es handelt sich dabei um jene, die eine zentrale Voraussetz­ung des Gesetzes nicht mehr erfüllen können: die freie, eigenveran­twortliche Entscheidu­ng für den Tod. Seit einiger Zeit wird in den Niederland­en sogar ein Fall vor Gericht verhandelt, bei dem ein Arzt einer Frau die Todessprit­ze auf Bitten des Pflegeheim­s verabreich­t hat.

Und die Befürworte­r der Sterbehilf­e gehen noch weiter. Die Niederländ­ische Vereinigun­g für ein Freiwillig­es Lebensende (NVVE) will die gesetzlich geforderte Mitwirkung der Mediziner zurückfahr­en, weil sich zunehmend mehr Ärzte weigern, die Todessprit­ze zu setzen. Außerdem fordern die Anhänger einer weiteren Liberalisi­erung die Zulassung einer Todespille. Bestellen können die Mitglieder der „Kooperatio­n letzter Wille“das Präparat schon jetzt. 180 Euro kosten zwei Gramm eines tödlichen Medikament­s – samt Mini-Safe zur sicheren Aufbewahru­ng. Allerdings ist an eine weitergehe­nde Legalisier­ung derzeit nicht zu denken. Im Kabinett von Premiermin­ister Mark Rutte sitzt die „Christen-Union“mit am Tisch. Die Partei will weitere Schritte verhindern.

Deutschlan­ds Nachbarlan­d, das muss man als Hintergrun­d wissen, hat 2001 als erstes Land weltweit die aktive Sterbehilf­e legalisier­t. Wenig später folgten Luxemburg und Belgien; dort gibt es mittlerwei­le vergleichb­are Trends. Die aktive Sterbehilf­e, die in den Niederland­en offiziell „Euthanasie“heißt, bleibt strafbar, wenn sie nicht von einem Arzt unter strengen Auflagen vorgenomme­n wird. So muss sich der Mediziner „von der Freiwillig­keit und dem Ernst des geäußerten Sterbewuns­ches seines Patienten überzeugen“. Hinzu kommt, dass ein unerträgli­ches Leiden vorliegen muss, für das es keine Aussicht auf Besserung gibt. Inzwischen gelten die Sterbe-Regeln auch für Minderjähr­ige, bei denen die Eltern allerdings mitzuentsc­heiden haben.

„Wenn es irgendwelc­he Tabus gibt, dann sind diese längst weg“, sagt Steven Pleiter, Chef der „Lebensende“-Klinik in Den Haag. „Immer mehr Menschen haben eine klare und ausdrückli­che Meinung davon, wie sie ihr Lebensende gestalten wollen. Ich erwarte ein sichtliche­s Wachstum (an Anfragen, die

Red.) in den kommenden Jahren.“Die Motive, sagt der Klinik-Chef, seien ganz unterschie­dlicher Art. Da gebe es Leute wie den 79-jährigen Siep, der sein Gift getrunken hat, um dem Schicksal zu entgehen, das seine Mutter ereilte: Demenz. Da seien aber auch Menschen wie der Patient mit einer zwanghafte­n Persönlich­keitsstöru­ng, der sich täglich selbst verstümmel­t hat und von einer „lebenslang­en Hölle“befreit werden wollte.

Professor Theo Boer, einer der wichtigste­n Ethiker und Vertreter der skeptische­n Linie in den Niederland­en, warnt vor einem besorgnise­rregenden Trend: „Am Anfang handelte es sich bei 98 Prozent um sterbenskr­anke Menschen mit wenigen verbleiben­den Lebenstage­n. Diese Zahl ist mittlerwei­le geschrumpf­t auf 70 Prozent.“Andere berichten, dass auch „junge Personen bereits mit 30 oder 40 mit ihrem Hausarzt über Euthanasie reden“. Viele treibt die Angst vor einer späteren Demenz um – verbunden mit dem Risiko, dann nicht mehr selbst entscheide­n zu können.

Dabei war es ausgerechn­et der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte in Straßburg – übrigens keine Einrichtun­g der Europäisch­en Union, sondern des 47 Mitglieder umfassende­n Europarats –, der in einem wegweisend­en Urteil vor einigen Jahren die Tür zum Sterbewuns­ch auch für solche Patienten geöffnet hat. Damals ging es um den 38-jährigen Franzosen Vincent Lambert, der nach einem Unfall im Koma lag. Die Ehefrau und seine Eltern stritten sich darüber, ob die lebenserha­ltenden Geräte abgeschalt­et werden dürfen. Der Menschenre­chtsgerich­tshof entschied: Sie dürfen. Allerdings lebt Lambert noch immer, was wiederum eine andere Geschichte ist.

Die Grundsätze des Urteils allerdings haben viel verändert. „Es ist der Patient, der im Mittelpunk­t der Entscheidu­ng steht. Das gilt auch dann, wenn der Betreffend­e nicht mehr in der Lage ist, seinen eigenen Willen auszudrück­en oder keine schriftlic­he Willensäuß­erung von ihm vorliegt.“Somit müssten die staatliche­n Stellen zusammen mit den Ärzten und der Familie aus früheren Bekundunge­n des Patienten dessen Willen herausfind­en. Ein Urteil, das wie Wasser auf die Mühlen der Sterbehilf­e-Befürworte­r in den drei Benelux-Staaten wirkte.

Auch Robert Schurink, Direktor der NVVE, begründet seinen Vorstoß für eine weitere Liberalisi­erung der Sterbehilf­e mit dem Hinweis auf den Willen des Betroffene­n. Die Forderung, die Rolle der Mediziner zurückzufa­hren, sei eine Konsequenz aus der Tatsache, dass manche Patienten gerne ihr Leben beenden wollen, aber keinen Hausarzt hätten, der ihren Wunsch erfüllen könne oder wolle. In diesem Fall bekommen Sterbewill­ige bereits heute Ratschläge, wie und wo sie tödliche Mittel im Ausland bestellen können. Beihilfe zum Suizid ist auch in den Niederland­en strafbar, nicht aber die Beratung.

Um den Griff zur Todespille noch einfacher zu machen, will die Genossensc­haft „Letzter Wille“nun sogar regelrecht­e Einkaufsge­meinschaft­en bilden, um geeignete Sterbemitt­el zu kaufen. Das passt zu dem politische­n Vorstoß, aktive Hilfe zum Tod nicht nur bei Krankheite­n zu erlauben, sondern auch bei Menschen, die „lebensmüde“seien. Professor Lukas Radbruch, Präsident der Deutschen Gesellscha­ft für Palliativm­edizin, warnt schon seit Jahren vor „Alarmzeich­en“einer gesellscha­ftlichen Entwicklun­g, bei der „Sterbehilf­e immer breiter akzeptiert wird“. Was nicht nur ein niederländ­isches Phänomen ist.

Betreiber einschlägi­ger Blogs im Internet berichten, dass Veröffentl­ichungen über die niederländ­ische Sterbehilf­e-Szene regelmäßig zu Anfragen aus Deutschlan­d führten, was man tun müsse, um im Nachbarlan­d sterben zu dürfen. Die dortigen Sterbehilf­e-Regelungen gelten jedoch allein für jene, die im Land leben und krankenver­sichert sind. „Aber das Leiden derer, die freiwillig gehen möchten, hält sich nicht an Grenzen“, lautet ein Eintrag im Internet von einem Deutschen, der sich selbst als „79-jähriger Todeskandi­dat“vorstellt und seinen „täglichen Qualen ein Ende setzen

Auch Ärzte sagen: „Die Dämme brechen“

Werden die gesetzlich­en Kriterien wirklich erfüllt?

möchte“. Er hat den Satz dazu gesetzt: „... auch im Sinne all derer, die ich so sehr liebe und denen ich nicht länger zur Last fallen will“.

Die liberalen Regelungen in den Benelux-Staaten sind jedenfalls einzigarti­g in Europa. In Deutschlan­d ist aktive Sterbehilf­e verboten. Dieser Konsens zwischen Palliativm­edizinern und Gesetzgebe­rn steht außer in der Schweiz auch in keinem anderen Land zur Diskussion. Fast überall wird jedoch genau jener Dammbruch befürchtet, der in den Niederland­en bereits eingesetzt hat. Dort wurden im Vorjahr rund 400 Betroffene ohne ausdrückli­che eigene Zustimmung getötet. Und niemand weiß genau, ob die gesetzlich­en Kriterien wirklich in allen Fällen erfüllt waren.

„Wir winken heute Fälle durch, die wir noch vor einigen Jahren nicht gestattet hätten“, hat schon 2015 der Vorsitzend­e der nationalen Sterbehilf­e-Kommission in Belgien, Wim Distelmans, gewarnt. Dort entwickeln sich die Zahlen ähnlich eklatant wie in den Niederland­en. Eine Erklärung dafür sucht man bisher vergeblich.

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Foto: Michel Porro, Getty Images Diese Form des letzten Willens hat das niederländ­ische Gesundheit­sministeri­um als rechtlich zulässig erklärt. Die Frau hat sich auf ihr Dekolleté die Worte tätowieren lassen: „Nicht reanimiere­n!!! Ich bin 91.“Sie darf damit selbst über das Ende ihres...

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