Augsburger Allgemeine (Land West)
Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (66)
An diesem Abend, als ich in einem Motelzimmer einzuschlafen versuchte, musste ich immer wieder über eine Begegnung nachdenken, die ich ein paar Tage zuvor gehabt hatte. Ich war in Nordwales in einer Stadt am Meer gewesen. Den ganzen Vormittag über hatte es in Strömen gegossen, aber um die Mittagszeit hörte der Regen auf, und die Sonne kam sogar hervor. Ich war auf dem Weg zu meinem Auto, das ich in einer dieser langen geraden Küstenstraßen geparkt hatte. Es war kaum ein Mensch unterwegs, und vor mir zog sich eine ununterbrochene Linie nasser Pflastersteine endlos hin. Nach einer Weile hielt vielleicht dreißig Meter vor mir ein Lieferwagen, und ein Mann stieg aus, der als Clown verkleidet war. Er öffnete die Hintertür und nahm ein Bündel heliumgefüllter Luftballons heraus, vielleicht ein Dutzend Stück, die er an den Schnüren in einer Hand hielt, während er sich vorbeugte und mit der anderen in seinem Fahrzeug stöberte. Als ich näher
trat, sah ich, dass die Ballons Gesichter und abstehende Ohren hatten, wie Mitglieder eines kleinen Stamms, die hoch über ihrem Anführer in der Luft schwebten und auf ihn warteten.
Der Clown richtete sich auf, sperrte seinen Lieferwagen ab und setzte sich in derselben Richtung in Bewegung, in die auch ich ging. Er war mehrere Schritte vor mir, einen kleinen Koffer in der einen Hand, die Ballons in der anderen. Die Küstenstraße zog sich lang und gerade hin, und ich hatte das Gefühl, dass ich eine Ewigkeit hinter ihm hertrottete. Manchmal war mir die Situation peinlich, und ich dachte schon, der Clown werde sich früher oder später umdrehen und mich ansprechen. Aber ich hatte keine Wahl und musste nun mal diese Richtung einschlagen. Also gingen wir weiter, der Clown und ich, auf diesem menschenleeren, noch regennassen Bürgersteig, und während der ganzen Zeit rempelten die Ballons sich gegenseitig an und grinsten auf mich herunter. Ab und zu sah ich die Faust des Mannes, in der alle Ballonschnüre zusammenliefen, und ich sah, dass er sie umeinander gewickelt hatte und mit sicherem Griff hielt; dennoch machte ich mir Sorgen, dass sich ein Faden lösen und ein einzelner Ballon in den wolkenverhangenen Himmel davonsegeln könnte.
Als ich nach der Begegnung mit Roger abends wach im Bett lag, sah ich wieder diese Ballons vor mir. Und ich dachte, die Schließung von Hailsham war so, als käme jemand mit einer Schere und durchtrennte die Ballonschnüre genau dort, wo sie sich über der Hand des Mannes umeinander schlangen. Dann wäre jedes Gefühl von Zusammengehörigkeit dahin. Als Roger mir von der Schließung berichtete, hatte er eine Bemerkung gemacht, die mir nicht mehr aus dem Sinn ging: Er fand, dass es für unsereinen keine große Rolle mehr spielte, ob es Hailsham gab oder nicht. Und in mancher Hinsicht mochte er Recht haben. Aber die Vorstellung, dass es dort nicht so weiterging wie immer, dass es keine Aufseherin wie Miss Geraldine mehr gab und keine JuniorGruppen mehr zum nördlichen Sportplatz geführt wurden – diese Vorstellung war schrecklich.
In den Monaten nach dem Gespräch mit Roger dachte ich immer wieder lange über die Schließung von Hailsham und die Folgen nach. Und wahrscheinlich begann mir zu dämmern, dass ich vieles, was ich noch vorhatte, wovon ich immer geglaubt hatte, ich hätte noch jede Menge Zeit dafür, entweder ziemlich bald in Angriff nehmen oder aber für immer aufgeben musste. Nicht, dass ich deswegen gleich in Panik geriet. Aber ich hatte das sehr deutliche Gefühl, dass mit der Schließung von Hailsham alles um uns in eine Schieflage geraten war. Das ist der Grund, weshalb Lauras Vorschlag auf dem Parkplatz, ich könnte doch Ruths Betreuerin werden, eine solche Wirkung auf mich ausübte, obwohl ich Ruth damals völlig aus meinen Gedanken verbannt hatte. Es war fast so, als hätte ein Teil von mir die Entscheidung bereits getroffen und Lauras Worte hätten nur den darüber gebreiteten Schleier fortgezogen.
Nur wenige Wochen nach dem Gespräch mit Laura suchte ich zum ersten Mal das Erholungszentrum in Dover auf, diese moderne Anlage mit den weiß gekachelten Wänden, in der Ruth untergebracht war. Seit ihrer ersten Spende – die, wie Laura verraten hatte, gar nicht gut verlaufen war – waren etwa zwei Monate verstrichen. Als ich ihr Zimmer betrat, saß sie im Nachthemd auf der Bettkante und lächelte mich strahlend an. Sie stand auf, um mich zu umarmen, setzte sich aber fast sofort wieder hin. Sie sagte, ich sähe besser aus denn je, und meine Frisur stehe mir ausgezeichnet. Auch ich machte ihr Komplimente, und während der nächsten halben Stunde waren wir, glaube ich, beide ehrlich begeistert, dass wir uns wieder gefunden hatten. Wir redeten über alles Mögliche – über Hailsham, die Cottages, alles, was wir seither getan hatten –, und es war, als könnten wir bis in alle Ewigkeit so weiterreden. Mit anderen Worten, es war ein wirklich ermutigender Neuanfang – viel besser, als ich zu hoffen gewagt hatte.
Und doch verloren wir in dieser ersten Zeit kein Wort über die Art und Weise, wie wir damals auseinander gegangen waren. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn wir diesen wunden Punkt schon zu Beginn in Angriff genommen hätten, wer weiß? Tatsache ist, dass wir ihn einfach übergingen, und nachdem wir uns eine Weile unterhalten hatten, war es, als hätten wir stillschweigend vereinbart, so zu tun, als sei nie etwas zwischen uns vorgefallen.
Bei unserer ersten Begegnung mag das noch in Ordnung gewesen sein. Aber nachdem ich offiziell ihre Betreuerin geworden war und sie regelmäßig besuchte, wurde das dumpfe Gefühl, dass zwischen uns etwas nicht stimmte, unabweisbar. Ich hatte mir angewöhnt, drei- bis viermal in der Woche spätnachmittags mit Mineralwasser und einer Packung ihrer Lieblingskekse vorbeizukommen, und es hätte wunderschön sein müssen, aber zunächst verliefen unsere Begegnungen alles andere als schön. Wir fingen über irgendwas zu reden an, irgendein völlig harmloses Thema, und auf einmal geriet das Gespräch ohne ersichtlichen Grund ins Stocken. Oder es wurde immer gespreizter und verkrampfter, je länger es dauerte.
Eines Nachmittags schritt ich ihren Flur entlang, um sie zu besuchen, und hörte, dass der Duschraum gegenüber ihrem Zimmer besetzt war. Da ich sie selbst darin vermutete, betrat ich ihr Zimmer, wo ich am Fenster stand und auf die vielen Dächer hinausschaute und wartete. Es verstrichen vielleicht fünf Minuten, dann kam sie in ein Handtuch gehüllt herein. Der Gerechtigkeit halber muss ich sagen, dass sie mich erst eine Stunde später erwartet hatte, und vermutlich fühlen wir alle uns ein bisschen verletzlich, wenn wir aus der Dusche kommen und uns nur ein Handtuch umgewickelt haben. Trotzdem verschlug es mir die Sprache, als ich den alarmierten Ausdruck in ihrem Gesicht sah.