Augsburger Allgemeine (Land West)
Das Erregungspotenzial von Kunst
Nun soll die „träumende Thérèse“des Mädchen-Malers Balthus aus dem Metropolitan Museum von New York entfernt werden. Ist dieses Bild etwa eine Handlungsaufforderung?
Yorkerin Mia Merrill eine OnlinePetition gestartet hatte mit dem Ziel: Abhängen! Ihr Vorwurf: „Sexualisierung eines Kindes“. Bis gestern Nachmittag schlossen sich 11 580 Gleichgesinnte an.
Die Darstellung der träumenden Thérèse berührt zweifellos ein Tabu. Ein zwölf-, dreizehnjähriges, also wohl pubertierendes Mädchen – so alt war Balthus’ Modell 1938 – wird in einer bewusst freizügigen Körperpose gemalt, die bei einer erwachsenen Frau ziemlich eindeutig als erregend ausgeklügelt einzuordnen wäre. Das Gemälde ist ein Grenzfall genau wie sein Motiv: Nicht manifest wird, ob sich hier ein Kind, fast noch unschuldig, instinktiv (im Sonnenschein?) rekelt oder eine junge Frau erwachende körperliche Reize bewusst ausprobiert. Gezeigt wird ein Zwischenreich, ein Übergangsstadium. Laszivität ist Thérèse ebenso wenig nachzusagen wie vollkommen reine, kindliche Unbefangenheit.
Dieses Sujet hat der menschen- Balthus immer und immer wieder auch leicht surrealisiert gemalt – weswegen in dieser Bildwelt auch mehrfach der Handspiegel auftaucht: als wichtiges Utensil zur Überprüfung beginnender äußerer Wirkung. Dass gerade die träumende Thérèse, von der es einen elfteiligen Bildzyklus gibt, so umstritten ist, bleibt einerseits verwunderlich – andererseits auch nicht. Von Balthus gibt es sowohl anzüglichere als auch unverfänglichere Werke. Ein jedes ist gesondert für sich zu betrachten – und zu interpretieren. Im vorliegenden Fall – schauen Sie genau hin! – lauten die Kernfragen wohl: Wird in diesem Gemälde ein Kind ausgebeutet? Ist das Bild als eine Handlungsaufforderung zu lesen? Ist es ein Stimulans?
damit verlagert sich die Analyse und vorsichtige Bewertung des Bildes auch auf die individuelle Betrachterperspektive – zum Beispiel auf die Frage: Identifiziere ich mich mehr mit dem Modell oder mehr mit dem porträtierenden Maler? Sehe ich nur, was ich sehen will – und ignoriere ich, was gegen meine Sichtweise spricht oder sprechen könnte? Auch diesbezüglich ist Balthus’ „Thérèse“ein Fall auf der Demarkationslinie – und gerade deshalb ein differenzierendes Bild, wie es auch Vladimir Nabokovs einst umstrittener Roman „Lolita“zeichnete – und weitere Kunst, die mit dem „Frühlingserwachen“spielt. Das muss prinzipiell sein dürfen.
Ansonsten wäre viel Museumsgut den Asservatenkammern zu überantscheue worten. Erstens, um nicht potenziell Pädophile in Versuchung zu bringen, zweitens, nicht den typisch männlichen Frauenbewunderungsblick – als eine Art Pawlow’schen Reflex – zu fördern, und drittens, nicht Frauen in verzückte Ohnmacht vor dem Barberini’schen Faun und Michelangelos David fallen zu lassen.
Der Öffentlichkeit zu entziehen wären des Weiteren soundsoviel Ansichten von Lina Franziska Fehrmann („Fränzi“) durch die „Brücke“-Maler, besonders Ernst Ludwig Kirchner. Zu entziehen wären auch Egon-Schiele-Bilder von Wally Neuzil, Munchs „Pubertierende“, Gauguins Südseeschönheiten. Überall viel minderjährige bloßgelegte Haut – wie auch bei soundsoviel Liebesgott-Darstellungen früUnd herer Jahrhunderte. Dass Caravaggios „Sieger-Amor“aus der Berliner Nationalgalerie ein unbeschnittener, lebenslustiger Knabe ist, kann nicht übersehen werden. Auch Goyas frisch gebadete und erwartungsfrohe Maja wird es dann treffen. Viele kahle Wände in unseren Museen?
Um der Redlichkeit willen ist nun aber auch eine Volte zu schlagen. Der Ausgang war Balthus und seine Obsession von halbwüchsigen Mädchen. Nach allem, was die Kunstgeschichte weiß, können Balthus nicht pädophile Neigungen und erst recht nicht Kindesmissbrauch vorgeworfen werden. Aber: In den 1990er Jahren nahm der bereits greise und kranke Balthus an die 2000 Polaroid-Aufnahmen des Mädchens Anna Wahli auf, die 2014 im Essener Folkwang-Museum ausgestellt werden sollten, doch letztlich nicht ausgestellt wurden. Das Essener Jugendamt hatte, wie es seinerzeit der Museumsdirektor Tobias Bezzola erklärte, darauf hingewiesen, es könne ungewollte juristische Konsequenzen und eine Schließung der Ausstellung geben.
Von diesen Polaroids ist bekannt, dass sie explizit erotisch, wenn auch nicht pornografisch sind. Anna Wahli hatte Balthus über Jahre freiwillig und mit Einverständnis ihrer Eltern besucht und Modell gesessen, gelegen. Auch im Nachhinein beschuldigt
… könnte Ihr sittliches Empfinden beeinträchtigen
sie Balthus nicht irgendwelcher Übergriffe. Gleichwohl sind zumindest einige dieser Fotografien des teils nackten Mädchens Anna anders zu bewerten als die künstlerisch überhöhten Gemälde von Balthus.
Es kommt eben, wie gesagt, auf den Einzelfall an – auf den Einzelfall einer graduellen Bandbreite, gerade bei Balthus. In Ermessensfragen weisen Museen auf mögliche Besucher-Irritationen durch Worte wie die folgenden hin: „…könnte Ihr sittliches Empfinden beeinträchtigen.“Vergleichbares tat das Metropolitan Museum auch bei einer großen Balthus-Schau 2013. Aber zensiert wurde nicht.
Um den Ball flach zu halten: Die New Yorker Petitions-Initiatorin will zwar die Abhängung der träumenden Thérèse möglichst erreichen, bietet aber immerhin eine Alternative an: ausreichende Informationen neben dem Gemälde zu dem brisanten Sujet.
Dagegen ist nun wirklich nichts einzuwenden.