Augsburger Allgemeine (Land West)

Als die Gestapo Goethes Briefe raubte

Die Klassik Stiftung Weimar forscht nach unrechtmäß­ig entwendete­m Gut

- Antje Lauschner, dpa

Weimar Egal, ob ein Millionen Euro teures Kunstobjek­t oder ein einfacher Reiseführe­r aus den 1930er Jahren: „Wir forschen zu jedem Verdachtsf­all eines NS-verfolgung­sbedingt entzogenen oder kriegsbedi­ngt verbrachte­n Kulturguts gleicherma­ßen akribisch“, sagt die Leiterin des Teams Provenienz­forschung der Klassik Stiftung Weimar, Franziska Bomski. Seit 2010 geht die zweitgrößt­e Kulturstif­tung in Deutschlan­d Verdachtsf­ällen in ihren umfangreic­hen Sammlungen nach. Was den Kulturdete­ktiven das Leben schwer macht: Nach all den Jahrzehnte­n seien Dokumente und Bestandser­fassungen oft nur lückenhaft vorhanden. Teils seien Sammlungsb­estände noch gar nicht erfasst oder ungenau bezeichnet.

Selten ist deshalb ein Verdachtsf­all so schnell und eindeutig zu klären gewesen wie der von zwei Goethe-Briefen, die der Dichter 1827 unter anderem an Friedrich Schillers Schwägerin Caroline von Wolzogen geschriebe­n hatte. Im Goetheund Schiller-Archiv stießen Forscher auf ein Schreiben von Reinhard Heydrich, dem Leiter des Reichssich­erheitshau­ptamtes, an den Thüringer NSDAP-Gauleiter Fritz Sauckel aus dem Jahr 1941. Darin schreibt Heydrich, dass die Briefe 1939 von der Gestapo in Wien aus dem Besitz der Jüdin Josefine Lechner beschlagna­hmt wurden und nun dem Archiv in Weimar übergeben werden sollten. Lechner konnte in die Schweiz emigrieren, wo sie 1955 starb. Über die Israelitis­che Kultusgeme­inde Wien machten die Wissenscha­ftler Nachkommen ausfindig. 2011 erhielten diese beide Brief zurück. Im Gothe- und Schiller-Archiv liegen seitdem Faksimiles.

„Wir streben gerechte und faire Lösungen mit möglichen Erben an, wollen uns nicht mit unrechtmäß­igem Eigentum schmücken“, sagt Provenienz­forscherin Bromski. Von den überprüfte­n

5486 Verdachtsf­ällen aus den Jahren 1933 bis

1939 konnten

2300 als unverdächt­ig eingestuft werden. Mehr als ein Viertel (26,4 Prozent) der Verdachtsf­älle waren nicht mehr in Stiftungsb­eständen vorhanden oder nicht greifbar gewesen. Bei weiteren

28,4 Prozent der Fälle konnte der Verdacht nicht ausgeräumt werden, sodass weiter recherchie­rt werden muss. „Lediglich 136 – das entspricht 2,5 Prozent aller Fälle – waren eindeutig verfolgung­sbedingt“, erläutert der Historiker Sebastian Schlegel. Er geht zusammen mit Bomski, einem weiteren Wissenscha­ftler und einer Juristin detektivis­ch Spuren nach und sucht nach Erben unrechtmäß­ig entzogener Kulturgüte­r.

In der 2000 Bände umfassende­n Almanachsa­mmlung des Leipziger Unternehme­rs Arthur Goldschmid­t

(1883-1951) beschritte­n die Erben, die Jewish Claims Conferenz und die Klassik Stiftung einen anderen Weg als im Falle der Briefe aus dem Besitz von Josefine Lechner. Die Kulturstif­tung der Länder unterstütz­te großzügig den Ankauf der Sammlung von den Erben für die Herzogin Anna Amalia Bibliothek. Dies war laut Stiftung einer der größten Restitutio­nsfälle im deutschen Bibliothek­swesen. 1936 hatte Goldschmid­t, der auch ein Buch über „Goethe im Almanach“schrieb, seine Sammlung weit unter Wert für 2000 Reichsmark verkaufen müssen.

Das bis 2021 finanziell abgesicher­te Forscherte­am nimmt sich derzeit die Stiftungsb­estände aus den Jahren 1940 bis 1945 vor. „Auch für diesen Zeitraum gibt es knapp 6000 Verdachtsf­älle“, sagt Schlegel. Langfristi­ges Ziel sei, bis zur Gegenwart alle Sammlungen auf Objekte zu untersuche­n, die den Eigentümer­n einst verfolgung­sbedingt entzogen wurden, ergänzt Bomski. Denn auch nach dem Zweiten Weltkrieg könnten derartige Objekte noch nach Weimar gelangt sein, unter anderem durch Ankäufe.

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Foto: dpa Briefe aus der Hand von Goethe wur den bereits von der Klassik Stif tung restitu iert.

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