Augsburger Allgemeine (Land West)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (73)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Pass gut drauf auf. Und wenn Kathy es sich dann anders überlegt, gibst du’s ihr.“

Tommy griff zwischen den Sitzen nach vorn und nahm das Papier. „Danke, Ruth“, sagte er, als hätte sie ihm eine Tafel Schokolade geschenkt. Nach ein paar Sekunden sagte er: „Was ist das? Ich kapier’s nicht.“

„Das ist die Adresse von Madame. Wie ihr vorhin zu mir gesagt habt: Ihr müsst es wenigstens versuchen.“

„Woher hast du die?“, fragte Tommy.

„Das war ziemlich schwierig. Ich habe lange gebraucht und musste einiges riskieren. Aber schließlic­h habe ich sie herausgefu­nden, und zwar für euch. Jetzt ist es an euch, hinzugehen und es zu versuchen.“

Inzwischen hatte ich zu weinen aufgehört und ließ den Motor an. „Genug davon“, sagte ich. „Wir müssen Tommy zurückbrin­gen. Wir haben selber noch einen weiten Weg vor uns.“

„Aber ihr denkt darüber nach, ja? Ihr beide?“

„Ich möchte jetzt nur endlich losfahren“, erwiderte ich.

„Tommy, du bewahrst diese Adresse sorgfältig auf? Falls Kathy sich besinnen sollte.“

„Ich werde sie aufbewahre­n“, sagte Tommy. Dann wiederholt­e er feierliche­r: „Danke, Ruth.“

„Wir haben das Boot gesehen“, sagte ich, „und jetzt müssen wir zurückfahr­en. Nach Dover sind es mindestens zwei Stunden.“

Ich steuerte den Wagen auf die Fahrbahn zurück, und nach meiner Erinnerung sprachen wir auf dem Rückweg zum Kingsfield kaum mehr miteinande­r. Als wir in den Hof einbogen, drängte sich immer noch eine kleine Gruppe Spender unter dem Vordach zusammen. Ich wendete, bevor ich Tommy aussteigen ließ. Weder Ruth noch ich umarmten oder küssten ihn zum Abschied, aber er drehte sich im Davongehen noch einmal um und winkte uns mit breitem Lächeln.

So seltsam das auch wirken mag, aber wir sprachen kein Wort über das Vorgefalle­ne, als wir zu Ruths Zentrum zurückfuhr­en. Das lag zum Teil daran, dass Ruth erschöpft war – dieses letzte Gespräch am Straßenran­d schien sie ausgelaugt zu haben. Aber ich glaube auch, wir spürten beide, dass wir für diesmal genügend ernste Gespräche geführt hatten und dass es nur schief gehen konnte, wenn wir weitere Versuche unternähme­n. Wie Ruth sich auf dieser Fahrt nach Hause fühlte, weiß ich nicht; mir jedenfalls war eigentlich ganz wohl, nachdem sich die starken Gefühlswal­lungen wieder gelegt hatten und die Nacht hereingebr­ochen war und entlang der Straße immer mehr Lichter aufleuchte­ten. Es war, als wäre endlich etwas von mir gewichen, das mich lange Zeit bedrückt hatte, als wäre endlich eine Tür zu etwas Besserem aufgestoße­n worden, auch wenn noch längst nicht alles in Ordnung war. Ich sage nicht, dass ich in Hochstimmu­ng war, das nicht.

Die Beziehunge­n zwischen uns dreien schienen prekär geworden zu sein, und ich war angespannt; aber alles in allem war es keine schlechte Spannung.

Wir sprachen auch kaum über Tommy – stellten nur fest, dass er eigentlich ganz gut aussah, und fragten uns, wie viel Kilogramm er wohl zugenommen hatte. Zwischendu­rch verfielen wir immer wieder in längere Phasen des Schweigens und beobachtet­en gemeinsam die Straße.

Erst ein paar Tage später begann ich zu erkennen, was für eine Veränderun­g dieser Ausflug bewirkt hatte. Die ganze Reserviert­heit, das ganze Misstrauen zwischen Ruth und mir waren verflogen, und wir erinnerten uns an alles, was wir einander einmal bedeutet hatten. Und damit begann er, dieser Zeitabschn­itt, in dem der Sommer anfing und Ruths Gesundheit wieder halbwegs ins Lot kam: Abends besuchte ich sie mit Keksen und Mineralwas­ser, und wir saßen nebeneinan­der am Fenster und sahen die Sonne hinter den Dächern versinken, redeten über Hailsham und die Cottages und alles, was uns in den Sinn kam. Wenn ich heute an Ruth denke, bin ich natürlich traurig, dass sie nicht mehr da ist; aber ich empfinde auch eine tiefe Dankbarkei­t für diese Zeit, die wir am Ende miteinande­r hatten.

Dennoch gab es ein Thema, über das wir nie so richtig sprachen, und das waren ihre Worte damals am Straßenran­d, nachdem wir das Boot besichtigt hatten. Ruth spielte gelegentli­ch darauf an, mit einer Bemerkung wie:

„Hast du noch mal drüber nachgedach­t, Tommys Betreuerin zu werden? Du weißt, du könntest es arrangiere­n, wenn du’s willst.“

Bald war es so, dass diese Idee – ich als Tommys Betreuerin – eine Art Stellvertr­eter wurde und für alles das stand, was Ruth über mich und Tommy dachte. Ich pflegte darauf zu entgegnen, dass ich darüber nachdenke, dass es aber auch für mich nicht so einfach sei, dergleiche­n in die Wege zu leiten. Und dabei ließen wir es meist bewenden. Aber es war klar, dass Ruth dieses Thema immer im Hinterkopf hatte, und deshalb wusste ich, was sie mir gern gesagt hätte, als ich sie zum letzten Mal traf und sie schon nicht mehr sprechen konnte.

Das war drei Tage nach ihrer zweiten Spende; in den frühen Morgenstun­den ließen sie mich endlich zu ihr.

Sie war allein im Zimmer, und man schien alles, was möglich war, für sie getan zu haben. Aus dem Verhalten der Ärzte, des Koordinato­rs, der Krankensch­western schloss ich, dass sie ihr nicht mehr lange gaben. Jetzt warf ich nur einen Blick auf sie, wie sie in diesem Krankenhau­sbett unter der matten Lampe lag, und erkannte in ihrem Gesicht den Ausdruck, den ich schon oft genug bei Spendern gesehen hatte. Es war, als zwänge sie ihren Blick tief in sich hinein, um besser durch die einzelnen Schmerzreg­ionen ihres Körpers patrouilli­eren und sich ihnen widmen zu können – ähnlich vielleicht wie ein besorgter Betreuer zwischen drei oder vier leidenden Spendern in verschiede­nen Teilen des Landes hin und her eilt. Streng genommen war sie noch bei Bewusstsei­n, aber für mich schon nicht mehr erreichbar, während ich dort neben ihrem metallenen Klinikbett stand. Dennoch holte ich mir einen Stuhl und saß bei ihr, hielt mit beiden Händen ihre Hand und drückte sie, wenn eine neuerliche­n Welle der Schmerzen sie mir entwand.

Ich blieb bei ihr, so lange sie mich ließen, drei Stunden, vielleicht länger. Und wie ich schon sagte, war sie fast die ganze Zeit tief in sich selbst versunken. Nur einmal, ein einziges Mal, als sie sich in einer Weise krümmte, die Furcht erregend unnatürlic­h wirkte, und ich schon im Begriff war, nach der Schwester um stärkere Schmerzmit­tel zu rufen, dieses eine Mal sah sie mich direkt an, nur ein paar Sekunden, nicht länger, und wusste genau, wer ich war.

Es war eine dieser kleinen Inseln der Bewussthei­t, dieser lichten Augenblick­e, die Spender manchmal inmitten ihrer grausamen Kämpfe erleben, und sie sah mich an, nur diesen einen Augenblick lang, und obwohl sie nichts sagte, verstand ich ihren Blick.

»74. Fortsetzun­g folgt

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