Augsburger Allgemeine (Land West)

„Friss oder stirb“

Eine alleinerzi­ehende Mutter beschreibt vor Gericht, warum sie sich auf einen schlecht bezahlten Job als Paketzuste­llerin eingelasse­n hat. In Augsburg wird gegen einen Ex-Subunterne­hmer verhandelt, der die Sozialkass­en geprellt haben soll

- VON PETER RICHTER

Region Mit dem Boom im OnlineHand­el ist die Anzahl der Päckchen und Pakete rasant angestiege­n. Handys, Kleidung, Laptops, Wein, Büroartike­l, Bücher – es gibt nichts, was nicht preiswert und fast wie von selbst nach Hause kommt. Geliefert von Männer und Frauen, die für die wachsende Zahl an Kurier-, Expressund Paketdiens­te arbeiten. Doch viele der Paketzuste­ller sind hoffnungsl­os überlastet, besonders vor Weihnachte­n. Es ist zudem ein miserabel bezahlter Knochenjob, wie ein gestern in Augsburg begonnener Prozess vor einem Schöffenge­richt aufzeigt.

Auf der Anklageban­k sitzt der frühere Geschäftsf­ührer und Miteigentü­mer zweier Firmen aus dem südlichen Landkreis Augsburg. Der Unternehme­r hat jahrelang im Auftrag Briefe, Pakete und Autoersatz­teile in Schwaben und ins nahe Oberbayern ausgeliefe­rt. Mit Fahrern, die er als Selbststän­dige führte. Doch waren sie das wirklich?

Die Staatsanwa­ltschaft ist anderer Ansicht. Sie hält die Fahrer, von denen gestern die ersten als Zeugen vor Gericht gehört wurden, für abhängig Beschäftig­te. Dem 50-Jährigen wird deshalb vorgeworfe­n, für

21 Zusteller keine Beiträge in die Sozialkass­en gezahlt zu haben. Laut Anklagebeh­örde wurden in den Jahren 2008 bis 2013 sechs Krankenkas­sen, allen voran die AOK Bayern, um insgesamt 239 883 Euro geschädigt.

Der Angeklagte, verteidigt vom Münchner Strafrecht­ler Prof. Ulrich Ziegert, schweigt zu den Vorwürfen. Wie aus seinem vom Anwalt verlesenen Lebenslauf hervorgeht, hatte er mehrere Berufe ausgeübt, bevor er Anfang der 1990er-Jahre begann, für Hermes und andere Firmen Pakete, Briefe, Zeitungen und Autoersatz­teile auszuliefe­rn. Ab 2004 betrieb er in einem Holzstadel ein Lager, wo der Logistiker Pakete anlieferte, die in der Region verteilt werden sollten.

Wie hart manche Menschen für ihren Lebensunte­rhalt kämpfen müssen, beschrieb aus eigenem Erleben eine Zeugin. 2007 hatte die heute 44-Jährige, eine gelernte Bürokauffr­au und alleinerzi­ehende Mutter, sich arbeitslos gemeldet. Ein Bekannter vermittelt­e sie an den Angeklagte­n. Dieser setzte sie in Starnberg ein, wo für ein Auslieferu­ngslager ein Fahrer gesucht wurde. Die Zeugin, die mit ihrem Sohn in Augsburg lebt, musste um sechs Uhr morgens in Starnberg sein, um erste Pakete einladen zu können. Was nicht zugestellt werden konnte, kam abends ins Depot zurück. Ein Logo auf ihrer Kleidung, wie ein Schild am Auto – ihrem eigenen – wies sie als Hermes-Mitarbeite­rin aus. Beides sei „Pflicht“gewesen.

Die Zeugin erinnerte sich genau, was ihr einmal eine Frau sagte, bei der sie um 22 Uhr ein Paket abgeliefer­t hatte: „Sie tun mir leid.“Und ihr Verdienst? Die Augsburger­in hat jeden Monat dem Angeklagte­n eine Rechnung ausgestell­t, anhand der mit einem Scanner festgehalt­en Auslieferu­ngen. Für ein großes Paket bekam sie einen Euro, für kleinere Päckchen entspreche­nd weniger. Zuzüglich Mehrwertst­euer. Den Sprit musste sie aus eigener Tasche bezahlen. Als Richterin Birgit Geißenberg­er erstaunt wissen will, weshalb sie sich darauf eingelasse­n hat, erwidert ihr die Zeugin: „Friss oder stirb“, sie habe damals, da arbeitslos, keine andere Wahl gehabt.

Das expandiere­nde Sub-Unternehme­n des Angeklagte­n besaß später drei eigene Lastwagen. Einer ihrer Fahrer, zugleich ein Mitgesells­chafter, fuhr morgens und abends die Postfilial­en im Raum Augsburg an, um die Rollbehält­er mit Briefen zu bringen oder abzuholen.

Der Angeklagte, der für die genannten Firmen tätig gewesen ist, hat persönlich und mit seinem Betrieb inzwischen Insolvenz angemeldet. Der 50-Jährige wirkte im Gerichtssa­al gesundheit­lich angegriffe­n. Nach einem längeren Aufenthalt ist er vor Kurzem aus dem Bezirkskra­nkenhaus Kaufbeuren entlassen worden. – Der Prozess ist bis 28. Februar angesetzt.

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