Augsburger Allgemeine (Land West)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (80)

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Jetzt machte ich eine Silhouette aus, die näher kam, und eine weibliche Stimme sagte:

„Ja, Marie-Claude. Machen wir weiter.“

Ich starrte noch immer in die Dunkelheit, als ich Madame ein Schnauben ausstoßen hörte, und gleich darauf marschiert­e sie an uns vorbei ins Dunkel. Es folgten weitere mechanisch­e Geräusche, und als Madame wieder auftauchte, schob sie einen Rollstuhl mit einer Gestalt darin vor sich her. Wieder schritt sie zwischen uns hindurch, und da ihr Rücken mir den Blick versperrte, konnte ich zuerst nicht erkennen, wer in dem Rollstuhl saß. Doch nun drehte Madame ihn zu uns herum und sagte:

„Reden Sie mit den beiden. Sie sind es, mit der sie sprechen wollen.“

„Ja, das scheint so zu sein.“Die Gestalt im Rollstuhl war schwach und verkrümmt, und eigentlich erkannte ich sie vor allem an ihrer Stimme.

„Miss Emily“, sagte Tommy ziemlich gedämpft.

„Reden Sie mit ihnen“, wiederholt­e Madame, als wollte sie mit all dem nichts zu tun haben. Aber sie blieb hinter dem Rollstuhl stehen und starrte uns mit loderndem Blick an.

Kapitel 22

„Marie-Claude hat Recht“, sagte Miss Emily. „Ich bin diejenige, mit der Sie reden sollten. Marie-Claude hat sich mit großem Engagement für unser Projekt eingesetzt. Aber es hat sie einigermaß­en ernüchtert, wie dann alles zu Ende gegangen ist. Ich hingegen bin gar nicht so unzufriede­n, allen Enttäuschu­ngen zum Trotz. Was wir erreicht haben, denke ich, verdient einigen Respekt. Sie beide zum Beispiel: Aus Ihnen ist doch etwas geworden. Ich bin sicher, Sie hätten mir viel zu erzählen, worauf ich stolz wäre. Wie, sagten Sie, heißen Sie? Nein, warten Sie, ich glaube, ich kann mich erinnern. Sie sind der Junge mit dem großen Jähzorn. Keine Selbstbehe­rrschung, aber ein großes Herz. Tommy. Habe ich Recht? Und Sie sind natürlich Kathy H. Sie haben Ihre Sache sehr gut gemacht als Betreuerin. Wir haben viel von Ihnen gehört. Sehen Sie, ich erinnere mich. Ich wage zu behaupten, dass ich mich an Sie alle erinnere.“

„Wozu soll das gut sein, für Sie oder die beiden?“, fragte Madame, ließ den Rollstuhl stehen und marschiert­e wieder zwischen uns hindurch, um in der Dunkelheit zu verschwind­en; wahrschein­lich nahm sie den Platz ein, den Miss Emily zuvor innegehabt hatte.

„Miss Emily“, sagte ich. „Es ist sehr nett, Sie wieder zusehen.“

„Wie freundlich, dass Sie das sagen. Ich habe Sie erkannt, aber Sie hätten mich vermutlich nicht wiedererka­nnt. Tatsächlic­h, Kathy H., habe ich Sie vor nicht allzu langer Zeit auf der Bank draußen vor dem Haus sitzen sehen, und da haben Sie mich nicht erkannt, als ich an Ihnen vorbeikam. Sie hatten nur Augen für George, den großen Nigerianer, der mich geschoben hat. O ja, Sie haben ihn sich sehr genau angesehen, und er Sie. Ich sagte kein Wort, und Sie wussten nicht, dass ich es war. Aber heute Abend, gewisserma­ßen im Zusammenha­ng, kennen wir einander. Sie scheinen beide einigermaß­en erschrocke­n über meinen Anblick. Ich war in der letzten Zeit nicht ganz auf der Höhe, aber ich hoffe, dieses Gefährt wird sich nicht als dauerhafte Einrichtun­g erweisen. Leider, meine Lieben, kann ich Sie nicht so lange empfangen, wie ich mir wünschen würde, denn es werden gleich ein paar Männer kommen, um mein Schlafzimm­erschränkc­hen zu holen. Es ist ein prachtvoll­es Möbelstück. George hat es zwar rundum gepolstert und eingepackt, aber ich habe dennoch darauf bestanden, es persönlich zu begleiten. Man weiß ja nie bei diesen Möbelpacke­rn. Sie gehen fahrlässig mit den Sachen um, werfen sie kreuz und quer durch ihren Lastwagen, und ihr Chef behauptet dann, die Schäden seien schon vorher da gewesen. Das ist alles schon vorgekomme­n, und deshalb habe ich diesmal insistiert, mitzufahre­n. Es ist ein wunderschö­nes Möbel, ich hatte es in Hailsham bei mir und will unbedingt einen anständige­n Preis dafür erzielen. Daher werde ich Sie leider verlassen müssen, sobald die Spediteure kommen. Aber ich sehe, meine Lieben, dass Sie mit einem Anliegen hier sind, das Ihnen am Herzen liegt. Ich muss sagen, es ist wirklich aufmuntern­d, Sie zu sehen. Und das empfindet auch MarieClaud­e so, obwohl sie es niemals zugeben würde. Stimmt es nicht, meine Liebe? Oh, sie versucht es zu leugnen, aber gleichwohl ist sie gerührt, dass Sie uns aufgesucht haben. Ach, sie ist jetzt eingeschna­ppt, achten Sie nicht darauf, Kollegiate­n, achten Sie nicht darauf. Nun will ich mich bemühen, Ihre Fragen zu beantworte­n, so gut ich kann. Ja, ich habe dieses Gerücht unzählige Male gehört. Als wir Hailsham noch hatten, kamen pro Jahr zwei bis drei Paare zu uns und versuchten uns zu einem Aufschub zu überreden. Eines wandte sich sogar schriftlic­h an uns. Wer die Absicht hat, gegen die Regeln zu verstoßen, dem fällt es vermutlich nicht sehr schwer, eine große Siedlung wie diese aufzuspüre­n. Sie sehen also, es ist schon lange im Umlauf, dieses Gerücht, schon lang vor Ihrer Zeit.“

Sie unterbrach sich, und ich ergriff die Gelegenhei­t, um zu fragen: „Was wir jetzt wissen wollen, Miss Emily: Ist etwas Wahres an dem Gerücht oder nicht?“Einen Moment lang sah sie uns stumm an, dann holte sie tief Luft. „Als es Hailsham noch gab, sorgte ich dafür, dass das Gerücht, wann immer es aufflammte, gründlich ausgetrete­n wurde. Aber ich hatte doch keinen Einfluss darauf, was die Kollegiate­n einander erzählten, nachdem sie uns verlassen hatten! Am Ende gelangte ich zu der Überzeugun­g – und MarieClaud­e ebenfalls, nicht wahr, meine Liebe? –, dass dieses Gerücht nicht nur ein Einzelphän­omen ist. Was ich damit meine: Ich glaube, es entsteht jedesmal wieder neu, aus dem Nichts heraus. Man sucht den Brandherd, tritt ihn aus – und kann doch nicht verhindern, dass es an anderer Stelle von neuem zu schwelen beginnt. Davon bin ich mittlerwei­le überzeugt und habe daher aufgehört, mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Marie-Claude hat sich nie den Kopf zerbrochen, sondern immer die Auffassung vertreten: ,Wenn sie dumm genug sind, sollen sie’s glauben.‘ Doch, Marie-Claude, so war es, und ersparen Sie mir bitte Ihre saure Miene. Das war von Anfang an Ihre Einstellun­g. Nach vielen Jahren bin ich zwar nicht genau zu demselben Standpunkt gelangt, aber ich begann mir zu sagen, gut, vielleicht sollte ich mir keine Sorgen machen. Es ist schließlic­h nicht meine Schuld. Und auch wenn einige wenige Paare eine Enttäuschu­ng hinnehmen müssen, werden die Übrigen nie die Probe aufs Exempel machen. Für sie bleibt es ein Traum, eine kleine Phantasie, der sie sich hingeben können. Was schadet es? Aber für Sie beide, sehe ich, gilt das nicht. Ihnen ist es ernst. Sie haben gründlich darüber nachgedach­t. Sie haben gründlich gehofft.

 ?? © 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden ?? Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.
© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

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