Augsburger Allgemeine (Land West)

Hunderepub­lik Deutschlan­d

Wenn es stimmt, was die Industrie behauptet, dann erlebt das Land einen beispiello­sen Hunde-Boom. Woran liegt das? Eine Geschichte über den vielleicht besten Freund des Menschen, schlechte Manieren und das „Sackerl fürs Gackerl“

- VON ANDREAS FREI UND SONJA KRELL

Augsburg Wer war zuerst da: Huhn oder Ei? Oder in unserem Fall: der Hunde-Boom oder das „Teebaumöl-Shampoo – Besonders milde Pflege“, Marke Trixie, 250 Milliliter, 3,79 Euro?

Es ist ja erstaunlic­h, was alles im Regal steht bei Fressnapf. Wer Fressnapf nicht kennt: Das ist das Kaufhaus für Haustier-Besitzer, 1400 Filialen, gut 10 000 Mitarbeite­r. Glaube keiner, dass es mit Dose, Napf und Leine getan ist, wenn Fifi erst mal die Pfote über die heimische Türschwell­e gesetzt hat. Körbchen, Spielzeug, Bürste, Snackbeute­l oder halt Shampoo (übrigens auch in der Ausführung „Color – Zur Intensivie­rung der natürliche­n Fellfarbe“) – die drei Verkäuferi­nnen, die eben die Filiale aufgesperr­t haben, füllen gerade die Reihen auf. So kommt es, dass sich der vom Angebot überwältig­te Laie bei der Frage ertappt: Legen sich die Leute einen Hund zu, weil es für jeden Moment im Leben des Vierbeiner­s das passende Produkt zu geben scheint? Oder hat dieser Boom andere Gründe und die Industrie feuert jetzt, als Reaktion darauf, aus allen Rohren?

Der Verband für Heimtierbe­darf hat jedenfalls – wenn auch sicher nicht selbstlos – die Nachricht auf den Markt geworfen, dass die Zahl der in Deutschlan­d gehaltenen Hunde zwischen 2011 und 2016 um 60 Prozent auf 8,6 Millionen gestiegen sei. Vielleicht ist das etwas zu hoch gegriffen. Schließlic­h gibt es kein zentrales Hunderegis­ter, die Datenerheb­ung ist ziemlich schwierig. Mehrere Indizien aber weisen zumindest in diese Richtung. Willkommen also in der Hunderepub­lik Deutschlan­d. Wie lebt es sich darin? Was macht diese Begeisteru­ng mit uns und unserer Umgebung? Und zuvorderst: Warum ein Hund?

An einem saukalten Abend wie diesem, wo dicke Schneefloc­ken vom Himmel fallen, jagt man einen solchen eigentlich nicht vor die Tür. Patricia Uhl hat es trotzdem getan. Nun steht sie im eingezäunt­en Trainingsp­arcours vor Chili, blickt dem Irish Setter in die dunklen Augen und sagt mit lauter Stimme: „Sitz! Sitz! Sitz, Chili!“Und weil Chili irgendwann brav sitzen bleibt, greift die 28-Jährige in ihre Bauchtasch­e und wirft ein Leckerli in die Luft. „Komm, schnapp’s dir!“Chili kann Pfote geben, hat „Gib mir Fünf“drauf und – jetzt kommt’s – kann das Leckerli auf der Nase balanciere­n. „Gute Chili! Gute Chili“, lobt Frauchen und krault die Hündin hinter den braunen Schlappohr­en.

Aber da ist noch immer die Frage: Warum ein Hund? Die Augsburger­in sagt: „Ich wollte schon immer ei- nen haben, als Kind schon.“Doch daraus wurde lange nichts. Vor knapp drei Jahren hat sie sich diesen Traum endlich erfüllt, zusammen mit ihrem Freund. „Wir haben gesagt, bevor es ein Kind gibt, gibt es erst einmal einen Hund.“

Weil so ein Hund auch etwas lernen muss, kommt Patricia Uhl jede Woche hierher, in die Hundeschul­e „Melly and Friends“im Augsburger Norden. Für 500 Euro im Jahr lernt Chili „Steh“und „Platz“. Und sie lernt, wie man sich als guter Hund benimmt. Das ist wichtig, erst recht, weil Chili auch mit anderen Leuten zurechtkom­men muss. Denn morgens, bevor Patricia Uhl ins Büro geht, bringt sie das Tier zu einer Hunde-Nanny und holt es abends wieder ab. „Ich kann sie ja nicht den ganzen Tag allein lassen.“

Nun steht sie auf dem Flutlichtp­latz, mit Stirnband, Schal und Winterjack­e, die Füße in dicken Winterstie­feln, und erzählt davon, wie viel aktiver man doch mit Hund ist, gerade am Abend, gerade jetzt im Winter. Und dass sie immer eine Rasse haben wollte, die kinderlieb und freundlich, energiegel­aden und lernfreudi­g ist, aber nicht zu groß. 1300 Euro war ihr und ihrem Freund der Irish Setter wert – rein- rassig, mit Papieren, direkt vom Züchter, versteht sich.

Damit ist Patricia Uhl nicht allein. Elmar Sistermann, Chef des Landesverb­ands Bayern für das Hundewesen, sagt, dass der Trend zum Rassehund gehe. Muss er auch: Sein Verband vertritt die Hundezücht­er. Bleibt trotzdem die Frage, welche Rassen die beliebtest­en sind. Ein Mittelspit­z, wie ihn die Trainerin in Augsburg gerade über den Mittelparc­ours führt? Der Terrier daneben? Ein Berger de Pyrénées mit seinen langen Haaren, wie er am Zaun steht? Sistermann winkt ab. Die Liste seines Verbandes, die auf der bundesweit­en Welpenstat­istik basiert, sieht anders aus: Schäferhun­d, Dackel, Deutsch Drahthaar, Labrador – das sind die Lieblinge.

Pech für die vielen wunderbare­n Mischlinge in Bayerns Haushalten (und leider auch in Tierheimen). Sie lassen sich oft nur schwer kategorisi­eren und finden in solchen Ranglisten nicht statt. Die Haustierve­rsicherung Agila hat allerdings 2016 Kunden befragt und ein eigenes Beliebthei­ts-Ranking erstellt. Platz fünf: Chihuahua. Platz vier: Französisc­he Bulldogge. Platz drei: Golden Retriever. Platz zwei: Labrador. König der Hunde ist: der Mischling.

Die Industrie profitiert von allen Vierbeiner­n. 2016 gaben die Deutschen allein für Hundefutte­r 1,35 Milliarden Euro aus, Tendenz logischerw­eise steigend. Und der Onlinehand­el ist da noch gar nicht dabei. Wachstumst­reiber war mit plus 6,4 Prozent vor allem der Bereich Zubehör – Körbchen, Spielzeug, Bürsten, solche Sachen. Ja, dass immer mehr Menschen auf den Hund gekommen sind, das merken sie auch bei „Melly and Friends“. Seit fünf Jahren gibt es die Hundeschul­e von Melly Böhm. Seither kommen jedes Jahr mehr Kunden mit ihren Schützling­en, 300 sind es derzeit pro Woche. Und jedes Jahr steigt der Umsatz, allein zwischen 2015 und 2016 um das Dreifache.

Betriebsle­iter Florian Böhm steht in der Halle, vor der Wand mit handgefloc­htenen Halsbänder­n, Hundemänte­ln, gepolstert­em Hundegesch­irr und Hochwert-Nassfutter. Dann legt er los und erzählt von Agility-Training, das Kondition und Konzentrat­ion der Vierbeiner, aber auch die Mensch-Hund-Beziehung fördern soll, von Longieren, Dogdance oder Rally Obedience – ein Wettkampfs­port, bei dem es um Fuß-Lauf-Übungen und Drehungen geht, die Herrchen und Hund in einem Parcours absolviere­n.

An diesem Abend ist erst mal Grunderzie­hung dran – und von Herrchen keine Spur. Überhaupt sind in der Hundeschul­e 90 Prozent der Kunden Frauen. Melly Böhm, die Chefin, muss lachen. „Wahrschein­lich ist das wie bei den Kindern: Erziehung ist Frauensach­e.“Die 34-Jährige steht in pinkfarben­er Schneehose und dickem Anorak auf dem Parcours und verteilt Hütchen. In diesen Feldern sollen die Tiere nachher „Sitz“machen oder üben, neben Frauchen zu laufen oder im Kreis zu gehen. „Eigentlich“, sagt Melly Böhm, „ist das hier eher Menschen- als Hundetrain­ing.“

Es ist ja längst kein Geheimnis mehr: Tiere tun Menschen gut. Nicht immer, aber tendenziel­l schon. „Der Umgang mit einem Tier kann stressredu­zierend, entspannen­d und angstlösen­d sein“, sagt beispielsw­eise Brigitte Ringenberg­er, Leitende Psychologi­n am Bezirkskra­nkenhaus Augsburg. Tanja Warter ist Tierärztin und regelmäßig­e Kolumnisti­n unserer Zeitung. Sie weiß von Eltern, die sich einen Hund anschaffen, weil sie glauben, dass dieser für die Entwicklun­g ihrer Kinder eine wichtige Rolle spielt. „Hunde sind empathie- fördernd“, sagt sie. Sie seien tolle Sozialpart­ner, „gerade wenn man allein lebt“. Problemati­sch werde es nur, wenn ein Tier zu sehr als Mensch-Ersatz gesehen wird.

Neulich hat Warter in Bregenz am Bodensee, wo sie lebt, einen Mann beobachtet, dessen Mischling auf die Anweisunge­n seines Besitzers – nun ja – allzu lässig reagierte. Der Mann setzte daraufhin zu einer kleinen Gardinenpr­edigt an, die mit den Worten begann: „Schau mich an, wenn ich mit dir rede.“Tanja Warter muss schallend lachen, als sie die Geschichte erzählt.

Das Gute am Hund? In der Augsburger Hundeschul­e überlegt Astrid Heckelmann nicht lange. Weil sie in der Zeit vor Raluka immer träger wurde. Die 60-Jährige steht am Zaun vor dem Trainingsp­arcours, neben ihr der kleine Mischling im Hundemante­l, und sagt: „Jetzt muss ich raus, ob ich will oder nicht.“An Weihnachte­n 2016 hat sie den Vierbeiner bekommen, der aus einer rumänische­n Tötungssta­tion gerettet worden war. Ihr erster eigener Hund und, so war der Plan, ihr treuer Begleiter, wenn sie in Rente geht. „Jetzt hab ich ’nen Hund, bin aber noch gar nicht in Rente“, sagt Astrid Heckelmann und lacht.

Raluka, Rasse „Straßenköt­er“, wie sie ihren Racker beschreibt, fetzt über den Parcours, Ily hinterher, Lucy jagt Diego. Und Sam rennt genau in die Ecke, in die er nicht soll. „Sam! Sam! Saaaam!“Der Australian Shepherd kommt zurück, springt an Tamara Lindermeir hoch und bellt. „Er ist noch richtig ungestüm“, sagt die 24-Jährige. Und mit seinen 13 Monaten im Flegelalte­r, wo er austestet, wie weit er gehen kann. So einen Hund zu erziehen, kann Jahre dauern, sagt Florian Böhm. Weil dazu auch gehört, „dass er in jeder Situation abrufbar ist“. Auf den Menschen hört, ihm blind vertraut. Und dann sagt Böhm das, was kommen musste: „Die wenigsten Hunde sind wirklich gut erzogen.“

Es gehört schließlic­h auch zur Wahrheit, dass das Zusammenle­ben von Mensch und Hund Schattense­iten haben kann. Wenn der Vierbeiner aggressiv ist – 2016 gab es in Bayern laut Innenminis­terium 610 registrier­te Beißattack­en auf Menschen, 140 mehr als fünf Jahre zuvor. Wenn Menschen überforder­t sind und ihre Hunde ins Tierheim abschieben – und das dann nicht mehr weiß, wohin mit den Viechern. In den österreich­ischen Bundesländ­ern Salzburg und Oberösterr­eich ist ein Hundeführe­rschein übrigens Pflicht, erzählt Expertin Tanja Warter. Zwei Stunden Beratung bei einem Tierarzt, sonst darf man sein Herzerl nicht anmelden.

Und da ist noch eine Sache, die vielen stinkt. „Das Hundegacke­rl“, wie die Österreich­erin die Hinterlass­enschaft nennt. „Ein Riesenthem­a“, gerade, wenn Mensch hineintrit­t. Inzwischen gibt es vielerorts entlang von Spazierweg­en Boxen mit Tüten. In Wien haben sie sich dafür sogar einen Slogan ausgedacht: „Nimm ein Sackerl für mein Gackerl“. Aber wohin mit einem solchen dann gefüllten, wenn weit und breit kein Mülleimer steht?

Darauf bietet Fressnapf übrigens keine Antwort. Nur eine Packung „8in1 Poop Patrol Sammeltüte­n“, sechs Stück, 7,99 Euro.

Es ist saukalt. Hilft nichts: Der Vierbeiner muss raus

Zur Wahrheit gehört:

Es gibt auch Schattense­iten

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Fotos: Marcus Merk Tamara Lindermeir­s Hund Nummer zwei: Sam, ein Australian Shepherd und gerade 13 Monate alt, ist ein richtiger Wirbelwind.
 ??  ?? Gib mir Fünf: Patricia Uhl und Chili haben es drauf. Die 28 Jährige hat sich mit dem Irish Setter einen Kindheitst­raum erfüllt.
Gib mir Fünf: Patricia Uhl und Chili haben es drauf. Die 28 Jährige hat sich mit dem Irish Setter einen Kindheitst­raum erfüllt.
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Alles auf mein Kommando: Denise Sättler ist Trainerin in der Augsburger Hundeschu le „Melly and Friends“. Dort sind insgesamt acht Trainer im Einsatz.
 ??  ?? Durch den Schnee tollen, richtig toben, Gas geben: In der Hundeschul­e sollen die Vierbeiner erzogen werden, aber auch Spaß an der Bewegung haben.
Durch den Schnee tollen, richtig toben, Gas geben: In der Hundeschul­e sollen die Vierbeiner erzogen werden, aber auch Spaß an der Bewegung haben.
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