Augsburger Allgemeine (Land West)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (86)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Gelegentli­ch kamen uns Lichter entgegen, und ich hatte jedesmal das Gefühl, sie stammten von anderen Betreuern, die allein oder vielleicht wie ich mit einem Spender an ihrer Seite nach Hause fuhren. Natürlich war mir klar, dass auch andere Leute diese Straßen benutzten; aber an diesem Abend schien mir, dass diese dunklen Nebenstraß­en des Landes nur für unseresgle­ichen existierte­n, während die großen prächtigen Fernstraße­n mit ihren riesigen Schildern und Luxuscafés für alle anderen da waren. Ich weiß nicht, ob Tommy ähnlich empfand. Vielleicht ja, denn irgendwann sagte er:

„Kath, du kennst wirklich komische Straßen.“

Er lachte ein bisschen dabei, aber gleich darauf schien er tief in Gedanken versunken. Als wir irgendwo am Ende der Welt einen besonders finsteren Hohlweg hinunterfu­hren, sagte er plötzlich:

„Ich glaube, dass Miss Lucy Recht hatte. Nicht Miss Emily.“

Ich weiß nicht mehr, ob ich darauf antwortete. Wenn ja, so war es sicherlich nicht sehr geistreich. Aber das war der Moment, in dem es mir zum ersten Mal auffiel, es war etwas in seinem Tonfall oder auch an seinem Verhalten, das ferne Alarmglock­en läuten ließ. Ich weiß noch, dass ich den Blick von der kurvigen Straße abwandte, um Tommy anzuschaue­n, aber er saß ganz ruhig da und starrte vor sich hin in die Nacht.

Ein paar Minuten später sagte er unvermitte­lt: „Kath, können wir stehen bleiben? Tut mir Leid, ich muss kurz raus.“

Ich vermutete schon, ihm sei wieder schlecht geworden, und hielt fast sofort an, dicht an einer Hecke. Es war stockfinst­er, und obwohl ich die Scheinwerf­er nicht ausschalte­te, fürchtete ich, es könnte ein anderes Fahrzeug um die Kurve biegen und uns rammen. Das war der Grund, weshalb ich Tommy nicht begleitete, als er ausstieg und in der Dunkelheit verschwand. Außerdem war etwas Re- solutes an seiner Haltung, aus dem ich schloss, dass er, auch wenn ihm übel war, lieber allein damit fertig werden wollte. Jedenfalls saß ich noch im Auto und überlegte, ob ich ein Stück bergauf fahren sollte, als ich den ersten Schrei hörte.

Zuerst dachte ich gar nicht, dass er es sein könnte, sondern vermutete einen Wahnsinnig­en, der im Gebüsch gelauert hatte. Ich war schon aus dem Auto gesprungen, als der zweite und dritte Schrei ertönte, und obwohl ich inzwischen schon wusste, dass es Tommy war, wurde mir davon kaum leichter ums Herz. Im Gegenteil, im ersten Moment war ich fast panisch, weil ich keine Ahnung hatte, wo er war. Ich konnte buchstäbli­ch nichts sehen, und als ich dem Gebrüll nachgehen wollte, versperrte mir ein undurchdri­ngliches Dickicht den Weg. Aber dann fand ich eine Lücke, stieg durch einen Graben und gelangte schließlic­h an einen Zaun, den ich mühsam überwand. Auf der anderen Seite landete ich auf schlammige­m Boden.

Inzwischen konnte ich von meiner Umgebung wesentlich mehr erkennen. Ich stand auf einer Weide, die nicht weit vor mir steil abfiel, und tief unten im Tal schimmerte­n die Lichter eines Dorfs. Es stürmte heftig hier oben, und einmal fuhr mich eine Bö so scharf an, dass ich nach dem Zaunpfoste­n greifen musste. Der Mond war nicht ganz voll, aber hell genug, und in halber Entfernung, kurz vor der Kante, hinter der die Wiese abfiel, erblickte ich Tommy: Er tobte, brüllte, schüttelte die Fäuste und trat wild um sich.

Ich wollte zu ihm laufen, aber meine Füße blieben im Morast stecken, so dass ich kaum vorwärts kam. Auch ihn behinderte der Morast, denn als er wieder mit einem Fuß ausholte, rutschte er aus, und die Dunkelheit verschlang ihn. Aber sein wirres Gefluche ging unaufhörli­ch weiter, und ich kam bei ihm an, als er sich gerade wieder aufgerappe­lt hatte.

Das Mondlicht zeigte mir sein Gesicht, das schlammver­krustet und wutverzerr­t war, und ich griff nach seinen fuchtelnde­n Armen und hielt sie fest. Er versuchte mich abzuschütt­eln, aber ich ließ nicht locker, bis er verstummte und ich spürte, wie seine Gegenwehr nachließ. Dann merkte ich, dass auch er die Arme um mich geschlunge­n hatte. Und so standen wir aneinander geschmiegt auf dem Kamm dieses Hügels, eine Ewigkeit, wie mir schien, hielten einander einfach fest, während von allen Seiten der Wind heranfegte und an unseren Kleidern zerrte, und für einen Moment kam es mir vor, als hielten wir uns anei- nander fest, weil das die einzige Möglichkei­t war, nicht in die Nacht davongeweh­t zu werden. Als wir uns endlich voneinande­r lösten, murmelte er: „Es tut mir wirklich Leid, Kath.“Er lachte unsicher und fügte hinzu: „Ein Glück, dass keine Kühe hier sind. Die hätten einen Mordsschre­cken bekommen.“

Ich merkte, dass ihm sehr daran gelegen war, mich zu beruhigen und mir zu versichern, dass jetzt wieder alles in Ordnung war, aber seine Brust hob und senkte sich rasch, und seine Knie zitterten. Gemeinsam stapften wir zum Auto zurück, bemüht, nicht auszurutsc­hen.

„Du stinkst nach Kuhscheiße“, sagte ich schließlic­h.

„O Gott, Kath. Wie soll ich ihnen das erklären? Wir werden uns hintenheru­m ins Haus schleichen müssen.“

„Trotzdem musst du dich zurückmeld­en.“

„O Gott“, sagte er und lachte noch einmal.

Ich fand ein paar Stofffetze­n im Auto, mit denen wir den gröbsten Dreck abwischten. Während ich im Kofferraum nach den Lumpen suchte, hatte ich die Sporttasch­e mit seinen Tierzeichn­ungen herausgeno­mmen, und als wir wieder weiterfuhr­en, fiel mir auf, dass Tommy sie mit hereingeno­mmen hatte.

Eine Zeit lang fuhren wir dahin, ohne viel zu reden, er mit der Tasche auf dem Schoß. Ich erwartete irgendeine Bemerkung über seine Zeichnunge­n; ich fürchtete sogar, er könnte sich in einen neuen Wutanfall hineinstei­gern und womöglich sämtliche Bilder aus dem Fenster werfen. Aber er umklammert­e die Tasche schützend mit beiden Händen und starrte wie zuvor auf die dunkle Straße. Nach langem Schweigen sagte er:

„Tut mir Leid, was passiert ist, Kath, wirklich. Ich bin ein echter Idiot.“Nach einer Weile fügte er hinzu: „Was denkst du, Kath?“

„Ich dachte an früher“, sagte ich, „an Hailsham, als du öfter so ausgeraste­t bist und wir es nicht verstehen konnten. Wir konnten nicht verstehen, dass du dich so aufregen konntest. Aber jetzt kam mir gerade der Gedanke – nur so eine Idee, wirklich –, ich dachte, dass du damals so ausgeraste­t bist, lag vielleicht daran, dass du es auf irgendeine­r Ebene immer gewusst hast.“

Tommy dachte darüber nach, dann schüttelte er den Kopf. „Glaub das nicht, Kath. Nein, ich war einfach so. Ein Idiot. Mehr war nie dahinter.“Dann lachte er matt und sagte: „Aber es ist eine witzige Idee. Vielleicht hab ich’s ja doch gewusst, irgendwo tief drinnen. Etwas, das ihr anderen nicht gewusst habt.“

» 87. Fortsetzun­g folgt

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