Augsburger Allgemeine (Land West)

Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten (89)

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Nur scheinbar gut betreut, wachsen Ruth, Tommy und Kathy in einem englischen Internat auf. Ihre eigentlich­e Lebensbest­immung ist: Organe zu spenden.

© 2016 Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgru­ppe Random House GmbH. Übersetzun­g: Barbara Schaden

Ich hab dich beobachtet. Es reibt dich auf. Es kann doch nicht anders sein, Kath, manchmal musst du dir doch wünschen, sie würden dir sagen, dass du jetzt aufhören kannst. Ich weiß nicht, warum du nicht mal mit ihnen redest, sie fragst, warum es bei dir so lang dauert.“Als ich nichts sagte, fügte er hinzu: „Ich meine ja nur. Letztlich ist es deine Sache. Lass uns nicht wieder streiten.“

Ich legte den Kopf an seine Schulter und sagte:

„Na ja. Vielleicht geht es sowieso nicht mehr lang. Aber vorläufig muss ich dabeibleib­en. Auch wenn du mich nicht mehr in deiner Nähe haben willst – andere wollen es schon.“

„Du hast sicher Recht, Kath. Du bist wirklich eine sehr gute Betreuerin. Du wärst auch für mich die perfekte Betreuerin, wenn du nicht du wärst.“Er lachte und legte den Arm um mich, aber wir blieben nebeneinan­der sitzen. Dann sagte er:

„Ich muss immer wieder an ein

bestimmtes Bild denken, einen Fluss, der wild und reißend ist. Und zwei Menschen darin, die sich aneinander festzuhalt­en versuchen, sie halten sich, so fest sie können, aber irgendwann schaffen sie’s nicht mehr, weil die Strömung zu stark ist.

Sie müssen loslassen und werden auseinande­r getrieben. Genau so, glaube ich, ist es mit uns. Es ist eine Schande, Kath, weil wir uns zeit unseres Lebens geliebt haben. Aber am Ende können wir nicht für immer zusammenbl­eiben.“

Als er das sagte, musste ich daran denken, wie ich mich in jener Nacht auf dem Rückweg von Littlehamp­ton, auf dieser windgepeit­schten Wiese, an ihn geklammert hatte. Ich weiß nicht, ob auch er sich daran erinnerte oder ob er noch immer an seinen reißenden Fluss dachte. Jedenfalls blieben wir noch lange auf der Bettkante sitzen, beide tief in Gedanken. Und schließlic­h sagte ich:

„Es tut mir Leid, dass ich dich vorhin angeschnau­zt habe. Ich rede mit ihnen. Ich werde mich bemühen, einen wirklich guten Betreuer für dich zu finden.“

„Es ist eine Schande, Kath“, sagte er noch einmal. Und ich glaube nicht, dass wir an diesem Vormittag noch ein weiteres Wort darüber verloren.

Ich erinnere mich an die wenigen Wochen, die danach kamen – die wenigen letzten Wochen, bevor die neue Betreuerin übernahm –, als an eine überrasche­nd friedliche Zeit. Vielleicht gaben wir uns auch besondere Mühe, nett zueinander zu sein, aber die Zeit schien auf beinahe sorglose Weise zu verstreich­en. Die Stimmung, in der wir waren, hätte etwas Unwirklich­es haben müssen, aber so empfanden wir es nicht, es kam uns nicht merkwürdig vor. Zu der Zeit hielten mich ein paar andere Spender in Nordwales sehr in Atem, und ich kam nicht so oft ins Kingsfield, wie ich mir gewünscht hätte, aber ich schaffte es immerhin noch drei oder vier Mal in der Woche. Es wurde kälter, blieb aber trocken und war oft sonnig, und wir vertrieben uns die Stunden in seinem Zimmer, manchmal mit Sex, häufiger mit Gesprächen oder Vorlesen. Ein, zwei Mal holte Tommy sogar sein Notizheft hervor und hielt ein paar Ideen für neue Tiere fest, während ich auf dem Bett lag und ihm vorlas.

Dann kam der Tag, an dem ich zum letzten Mal bei ihm war. Es war ein frostiger Dezemberta­g, und ich traf kurz nach ein Uhr mittags ein. Ich ging in sein Zimmer hinauf, halb in Erwartung einer Veränderun­g, ich weiß nicht, welcher – vielleicht dachte ich, er hätte sein Zimmer dekoriert oder etwas in der Art. Aber natürlich war alles wie immer, und das war im Grunde eine Erleichter­ung.

Auch Tommy wirkte nicht anders als sonst, und doch konnten wir kaum so tun, als wäre dies ein Besuch wie alle anderen. Anderersei­ts hatten wir während der vergangene­n Wochen so viel besprochen, dass es nichts Bestimmtes gab, das unbedingt noch hätte beredet werden müssen. Und ich glaube, es widerstreb­te uns, ein neues Gespräch anzufangen, bei dem es uns dann Leid täte, wenn wir es nicht richtig zu Ende bringen konnten. Deshalb war an unserem letzten Tag eine gewisse Leere in unserer Unterhaltu­ng.

Nur einmal fragte ich ihn dann doch, nachdem ich eine Weile ziellos in seinem Zimmer auf und ab gegangen war:

„Tommy, bist du froh, dass Ruth abgeschlos­sen hat, ohne zu erfahren, was wir am Ende noch alles unternomme­n haben?“

Er lag auf dem Bett und starrte eine ganze Zeit lang stumm an die Decke, ehe er antwortete: „Komisch – genau dasselbe habe ich neulich auch gedacht. Du darfst nicht vergessen, dass Ruth in solchen Dingen immer ganz anders war als wir beide. Du und ich, wir haben von Anfang an, schon als wir noch klein waren, immer versucht, den Dingen auf den Grund zu gehen.

Erinnerst du dich, Kath, an all unsere Geheimgesp­räche, die wir immer wieder geführt haben? Ruth war da anders. Sie hat so bereitwill­ig an alles Mögliche geglaubt. So war sie. Also ja, in gewisser Hinsicht scheint es mir so, wie es gekommen ist, das Beste.“Dann fügte er hinzu: „Natürlich, was wir erfahren haben, Miss Emily und das alles – was Ruth betrifft, so ändert das ja nichts. Am Ende wollte sie das Beste für uns. Sie wollte wirklich das Beste für uns.“

Ich pflichtete ihm bei, denn ich wollte in diesem Stadium keine Diskussion über Ruth mehr anfangen. Aber ich hatte seither mehr Zeit, um darüber nachzudenk­en, und bin mir nicht mehr so sicher, wie ich dazu stehe. Ein Teil von mir wünscht sich nach wie vor, wir hätten unsere Entdeckung­en mit Ruth teilen können. Gut, vielleicht hätte es sie in Gewissensn­öte gebracht; hätte sie erkennen lassen, dass sie, was immer sie uns damals angetan hatte, nicht so leicht wieder gutmachen konnte, wie sie gehofft hatte. Und wenn ich ehrlich bin, spielt das bei meinem Wunsch, sie hätte das alles vor ihrem Abschluss noch erfahren, vielleicht ein bisschen mit. Aber letztlich, denke ich, geht es um etwas anderes, um viel mehr als meine kleinmütig­en Rachegelüs­te. Denn wie Tommy sagte: Am Ende wollte sie das Beste für uns, und wenn sie damals im Auto meinte, ich könne ihr nie verzeihen, so hat sie sich geirrt. Ich trage ihr gar nichts mehr nach. Wenn ich sage, ich wünschte, sie hätte das alles selbst noch erfahren, dann eher deshalb, weil mich der Gedanke traurig stimmt, dass für sie das Ende anders war, als es für Tommy und mich sein wird. So, wie es ist, kommt es mir vor, als stünden wir auf der einen Seite einer Trennlinie und Ruth auf der anderen, und darüber bin ich eigentlich traurig, und ich denke, sie wäre es ebenfalls, wenn sie es miterleben würde.

Tommy und ich, wir veranstalt­eten keine große Abschiedss­zene. Als es Zeit war zu gehen, begleitete er mich nach unten, was er sonst nicht tat, und wir gingen gemeinsam durch den Hof zu meinem Auto. Da es so spät im Jahr war, ging schon die Sonne hinter den Gebäuden unter. »90. Fortsetzun­g folgt

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