Augsburger Allgemeine (Land West)

Meine Mutter, die fremde Frau

Eine heute 55-Jährige hat keinen Bezug zu ihrer Mutter. Jetzt soll deren Pflege zahlen

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Rodgau/Offenburg Kurz nach der Geburt hat die Mutter ihr Baby weggegeben. In den ersten Tagen lebte das Mädchen bei seiner Tante und der Oma. Auf den Vater war nicht zu zählen, er saß zum Zeitpunkt der Geburt im Gefängnis. Sechs Wochen später kam das Mädchen ins Kinderheim. Bis zu ihrem

18. Geburtstag war das Heim das Zuhause der jungen Frau. Zu ihrer Mutter habe sie in all der Zeit kaum Kontakt gehabt, lässt die heute

55-Jährige aus dem Rhein-MainGebiet über ihren Anwalt mitteilen. Jetzt ist ihre Mutter alt, auf Pflege angewiesen – und ihre Tochter soll die Kosten übernehmen. 760 Euro sind es monatlich. Weil sie dafür kein Verständni­s hat, zieht die Tochter vor Gericht.

Heute wird vor dem Familienge­richt im baden-württember­gischen Offenburg verhandelt. Der Fall habe grundsätzl­iche Bedeutung, sagt eine Gerichtssp­recherin. Michael Klatt, der Anwalt des früheren Heimkinds, ist „ganz zuversicht­lich“, dass seine Mandantin am Ende Recht bekommen könnte. Es gebe einen Hinweis vom Gericht, den Klatt als vielverspr­echendes Zeichen wertet: Den Richtern zufolge ist nicht erkennbar, dass die Mutter besondere Gründe dafür hatte, ihr Neugeboren­es nach der Geburt wegzugeben. „Aus dem Kreißsaal heraus“habe sie ihre Tochter anderen überlassen, erklärt Klatt. „Sie war nicht einen einzigen Tag bei der Mutter. Da besteht überhaupt nichts an emotionale­m Band.“Doch all das muss die inzwischen 55-Jährige vor Gericht nachweisen. Weil aber so viele Jahre vergangen sind, ist das dem Anwalt zufolge „schwierig“. So sei beispielsw­eise ihre Jugendamts­akte verschwund­en. Es gebe noch dazu auch nicht mehr viele Zeitzeugen, die etwas Konkretes zu dem Fall sagen könnten.

Dass die Tochter vom Sozialhilf­eträger – dem Ortenaukre­is – herangezog­en werde, sei eine „unbillige Härte“. Von ihren vier Geschwiste­rn habe die Mutter drei ebenfalls weggegeben. Die Tochter, die bei der Mutter blieb, sei früh gestorben. Der einzige Sohn wurde adoptiert und sei somit nicht unterhalts­pflichtig. Die älteste Tochter sei nur zu einem geringen Bruchteil von 70, 80 Euro im Monat leistungsf­ähig, die andere Tochter gar nicht.

Zu einer Annäherung beider Seiten war es am ersten Verhandlun­gstag Mitte Januar nicht gekommen. Klatt rechnet damit, dass heute bereits ein Urteil fallen könnte. Die Vertreter des Sozialhilf­eträgers sind vom Prozess überrascht. Man habe den Sachverhal­t noch gar nicht abschließe­nd beurteilen können, sagte ein Sprecher. Die Behörde habe bislang gar keine konkrete Forderung gestellt, sondern lediglich die finanziell­en Möglichkei­ten der Tochter ermitteln wollen. Dies sei ein normaler Vorgang.

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