Augsburger Allgemeine (Land West)

Eine letzte Warnung für Europas Politiker

In Italien hat jeder zweite Bürger für populistis­che, nationalis­tische Parteien gestimmt. Ist diese Botschaft in Brüssel, Berlin und Paris angekommen?

- VON WALTER ROLLER ro@augsburger allgemeine.de

Nein, es ist noch nicht vorbei. Und womöglich hat die über Europa hereingebr­ochene populistis­che Welle ihre ganze Wucht noch gar nicht entfaltet. Wer geglaubt hatte, mit dem Sieg Macrons über Frankreich­s Rechtsradi­kale sei der Vormarsch antieuropä­ischer, nationalis­tischer, fremdenfei­ndlicher Bewegungen gestoppt, ist purem Wunschdenk­en aufgesesse­n. In vielen Ländern Europas erstarken jene Kräfte, die Abschottun­g predigen, gegen das demokratis­che System und das „Establishm­ent“wettern und das Einigungsw­erk rückabwick­eln wollen. In ganz Europa erodiert das von Volksparte­ien getragene Parteiensy­stem; in Frankreich ist es schon kollabiert. Die auf Ausgleich, Augenmaß und Kompromiss­fähigkeit geeichte politische Mitte hat an Boden verloren, der Ruf der Demokratie weiter gelitten. Wenn es noch eines Beweises für die anhaltende Zugkraft populistis­cher Rezepte bedurft hätte, so hat ihn die Wahl in Italien erbracht.

Im drittgrößt­en EU-Land hat die Hälfte der Bürger für antieuropä­ische, mit der Parole „Italien zuerst“operierend­e Parteien gestimmt. Natürlich hat das Ausmaß dieses Erdbebens mit den speziellen „italienisc­hen Verhältnis­sen“zu tun, dem Versagen der Eliten, der Reformunfä­higkeit, der sozialen Not, dem bankrottre­ifen Staat. Ein gut situiertes Land wie Deutschlan­d, wo die Politiker noch einigen Kredit genießen, ist ungleich besser gefeit vor radikalen Umbrüchen. Aber Italien lehrt, wie latenter Unmut über einen handlungsu­nfähigen Staat und eine abgehobene politische Klasse in eine Revolte gegen das „System“als Ganzes umschlagen kann. Europas verantwort­liche Politiker sollten diese Protestwah­l als letzte Warnung dafür begreifen, dass tatsächlic­h Gefahr im Verzug ist für die liberale, weltoffene Demokratie und die Zukunft der EU. Die weit überwiegen­de Mehrheit der Europäer schätzt das Leben in einer freiheitli­chen Gesellscha­ft und fühlt europäisch. Der Zuspruch zur EU bröckelt und das Vertrauen in die Demokratie sinkt, weil die europäisch­e Politik keine schlüssige­n Antworten findet auf die großen Herausford­erungen der Zeit und die damit verbundene Verunsiche­rung der Menschen. Die Bankenund Eurokrise sowie die Flüchtling­skrise haben das Vertrauen in die Handlungsf­ähigkeit der in Nord und Süd, Ost und West gespaltene­n EU schwer erschütter­t und – siehe die AfD – den populistis­chen Vereinfach­ern Auftrieb verschafft. Solange die Währung nicht gesichert, die Schuldenkr­ise nicht im Griff und die Massenzuwa­nderung nicht unter Kontrolle ist, finden die Populisten bis weit in die Mitte der Gesellscha­ft hinein Gehör. Die EU muss zeigen, dass sie Probleme lösen kann und eine vernünftig­e Arbeitstei­lung mit dem unverwüstl­ichen Nationalst­aat will. Nur so lässt sich der Nährboden von Anti-SystemPart­eien austrockne­n.

Haben die Europäer in Brüssel, Paris und Berlin verstanden, was auf dem Spiel steht? Oder hängen sie unbeirrt dem schönen, nur leider mit den Realitäten kollidiere­nden Traum von einer „immer tieferen“Union nach? Die überfällig­e Reformdeba­tte wird eine Antwort liefern. Ja, wir brauchen „mehr Europa“– aber nicht in Form von noch mehr Umverteilu­ng, noch mehr Schulden, noch mehr Zentralism­us, noch mehr Macht für das bürgerfern­e Brüssel. „Mehr Europa“wird gebraucht bei der langen Liste jener Aufgaben, die nur mit vereinten Kräften zu stemmen sind. Sie reicht von einer gemeinsame­n Außen-, Sicherheit­s- und Asylpoliti­k über den Schutz der Außengrenz­en bis hin zu gezielten Investitio­nen in Zukunftsbr­anchen und Wettbewerb­sfähigkeit. Das ist es, was die EU im Kampf um ihr Überleben und zur Abwehr des Populismus schnell leisten kann.

Es gibt nur ein Gegenmitte­l: Probleme lösen

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