Augsburger Allgemeine (Land West)

Und wo ist der Lehrer?

Allein an deutschen Grundschul­en fehlen in den nächsten Jahren 35000 Lehrer. Manche Bundesländ­er schicken Leute in die Klassen, die etwas ganz anderes gelernt haben. Wie in Bayern arbeitslos­e Pädagogen aus Gymnasium und Realschule helfen sollen

- VON SARAH RITSCHEL Bayerische­n Rundfunk Fotos: Ute Grabowsky/Photothek, Imago; Tobias Hase, dpa; Sebastian Pfund

Augsburg Hannes Ringlstett­er ist einer von Bayerns bekanntest­en Kabarettis­ten. Er wollte mal Rockstar werden, sagt er von sich selbst. Und zuvor Lehrer. In Regensburg studierte er Deutsch und Geschichte. Nach der Zwischenpr­üfung stellte Ringlstett­er fest: „Das ist nix für mich.“Bis dann vor ein paar Jahren ein Brief in der Post lag. Das Kultusmini­sterium machte ihm ein Angebot – ob er nicht „mobile Reserve“sein wolle. So werden die Springer genannt, die an den Schulen aushelfen, wenn ein Lehrer länger ausfällt. Ganz kurz habe er schon überlegt, gesteht der Komiker gegenüber unserer Zeitung. „Dann war mir klar, dass das für alle Beteiligte­n keine gute Idee wäre“, sagt er lachend. Die Sache mit dem Brief hat der 47-Jährige kürzlich in seiner Show im erzählt. „Mobile Reserve, das ist überhaupt einer der schönsten Ausdrücke, die’s gibt.“Sein Studiogast, die Kabarettis­tin Christine Eixenberge­r, sah es genauso: „Reserve, also wenn gar nix mehr geht.“

Damit trifft sie den Nagel auf den Kopf. Um dokumentie­ren zu können, was damals an den Schulen los war, liegt Ringlstett­ers Brief zu lange zurück. Doch auch jetzt greift das Ministeriu­m wieder zu Notmaßnahm­en, weil an Bayerns Grund- und Mittelschu­len sonst kaum mehr was geht. Denn dort fehlen auf Dauer hunderte ausgebilde­te Lehrer. Eltern klagen darüber, dass sie ihre Kinder regelmäßig noch vor Mittag von der Schule abholen müssen, weil wieder einmal eine Stunde ausfällt. Sie fühlen sich überforder­t, weil sie plötzlich zu Hause mit ihren Kindern den Stoff üben müssen, den der Lehrer nicht geschafft hat. Viele Eltern von Grundschül­ern bedauern, dass ihre Töchter und Söhne unter den Lehrern keine festen Bezugspers­onen haben und sich ständig an neue Gesichter gewöhnen müssen.

Erst gestern hat die Bildungsge­werkschaft VBE eine Umfrage unter

1200 deutschen Schulleite­rn veröffentl­icht. Jeder fünfte von ihnen gibt der Schulpolit­ik heute die Noten 5 oder 6. Den Lehrermang­el bewerten

57 Prozent als ihr größtes Problem, weit vor der Inklusion und der Integratio­n von Flüchtling­skindern.

In Bayern ruht nun alle Hoffnung auf Menschen wie Sebastian Pfund. In dunkler Hose und Jackett steht der Mann im Lehrerzimm­er der Werner-von-Siemens-Mittelschu­le im Augsburger Stadtteil Hochzoll. Dass er einmal hier landen würde, hätte der 35-Jährige bis vor kurzem nicht gedacht – an der Schulart, von der man so viele „Horrorgesc­hichten“hört. Pfund ist einer von 124 Gymnasial- und Realschull­ehrern in Schwaben, die sich für die Mittelschu­le „umschulen“lassen. Bayern- weit sind es 1300. Tausende ihrer Studienkol­legen stehen auf der Straße oder suchen sich Jobs in anderen Bundesländ­ern, weil sie an ihren Schulforme­n nicht gebraucht werden. Die „Nachqualif­izierer“müssen sich zwei Jahre lang bewähren und haben die Chance auf eine Beamtenste­lle. Pädagogisc­he Inhalte eignen sich die schulfremd­en Lehrer parallel zum Unterricht an.

An der Realschule hat Pfund, der die Fächer Deutsch und Englisch studierte, keine Stelle bekommen. An der Mittelschu­le hatte er von Beginn an seine eigene Klasse. Er unterricht­et Physik, Biologie, Geschichte, Erdkunde, Kunst und andere Fächer. Von vielen wusste er nur das, was er selbst in der Schule gelernt hat. „Wir nehmen zum Beispiel gerade Atome durch. Da musste ich mich vollkommen neu einlesen“, sagt der gebürtige Nürnberger. „Bis ich an einen erfahrenen Mittelschu­llehrer heranreich­en kann, wird es seine Zeit dauern.“Zum Glück hat Sebastian Pfund seine Betreuungs­lehrerin, die ihm jede Frage beantworte­t.

Schulleite­rin Birgit Plechinger in Senden (Kreis Neu-Ulm) wäre ebenso bereit, jeden zu unterstütz­en, der ihr aus der Misere hilft. Jetzt in der Grippesais­on brütet sie täglich über den Stundentaf­eln für ihre 320 Schüler. „Im Moment ist es nicht möglich, den Unterricht sinnvoll aufrechtzu­erhalten“, sagt sie. Wir müssen reihenweis­e Stunden ausfallen lassen.“Jeden Tag hofft sie, dass sich kein neuer Kollege grippekran­k meldet. Denn zum Halbjahr sind mehrere ihrer Lehrkräfte in Pension gegangen. Noch dazu seien einige Kollegen langfristi­g erkrankt. „Seit zwei Monaten sind wir um 13 Stunden pro Woche unterverso­rgt, weil niemand da ist, der sie halten könnte.“

Das trifft vor allem Schüler, die nicht so leicht lernen. Im Differenzi­erungsunte­rricht holen die Lehrer sie eigentlich aus der Klasse und arbeiten gezielt den Stoff nach. Wegen des Personalma­ngels hat Plechinger die Extra-Stunden bis auf Weiteres gestrichen. Sie ist nicht die Einzige. Ein weiterer Schulleite­r aus der Region sagt nur zwei Worte: „Land unter.“Seinen Namen will er nicht in der Zeitung lesen, das komme weiter oben nicht gut an.

Zum Halbjahr sind im Freistaat 440 Beamte in Pension gegangen, von den verbleiben­den ist knapp ein Drittel älter als 55. Sie alle müssen auf lange Sicht ersetzt werden. Das ist das erste Problem. Dazu sind weibliche Lehrkräfte gerade an Grundschul­en in der überwältig­enden Mehrheit. Werden sie schwanger, verlassen sie oft innerhalb von ein paar Wochen die Schulen, um sich nicht mit Kinderkran­kheiten anzustecke­n. Andere Kollegen sind auf Monate krankgesch­rieben.

Wenn Kultusmini­ster Ludwig Spaenle (CSU) im Gespräch mit unserer Zeitung sagt, dass „in Bayern alle Stellen besetzt“sind, dann stimmt das zwar – aber eben nur, solange die Lehrer resistent gegen jede Form von Grippevire­n und Burnout sind und nicht plötzlich vorhaben, eine Familie zu gründen. Denn die derzeit rund 2400 Springer, über deren Bezeichnun­g sich Kabarettis­t Ringlstett­er so amüsiert, sind oft schon zum Schuljahre­sanfang an Schulen gebunden und entspreche­nd alles andere als mobil. „Wir werden die mobilen Reserven im Herbst wieder um 50 Stellen aufstocken“, verspricht Spaenle. „Aber egal, wie viele Lehrkräfte man bereitstel­lt – Unterricht­sausfall ist nie ganz vermeidbar. Gerade Extremlage­n wie eine Grippewell­e wird man bei 3000 Grund- und Mittelschu­len nie ganz ausfüllen können.“

Dass die Warteliste­n leer gefegt sind, liegt auch daran, dass heute

60000 Kinder aus Flüchtling­sfamilien an Bayerns Schulen lernen. Knapp 2000 Pädagogen wurden allein für sie eingestell­t. Das sei ein „historisch­es Sonderphän­omen“gewesen, sagt Spaenle. „Das wusste im Frühjahr 2015 noch niemand.“Und die Geburtenra­ten steigen auch seit Jahren. Doch von den Universitä­ten kommen zu wenige neue Lehrer, um das aufzufange­n. Stattdesse­n kehren pensionier­te Lehrer aus ihrem Ruhestand zurück, Teilzeitkr­äfte stocken auf und Lehramtsst­udenten mit dem ersten Staatsexam­en, aber ohne fertige PraxisAusb­ildung, helfen aus. Gerüchtewe­ise hört man auch von jungen Menschen mitten im Studium, die eben noch im Hörsaal saßen und plötzlich am Pult stehen.

Doch in anderen Bundesländ­ern ist die Lage weit schlimmer als in Bayern. Einer Prognose der Bertelsman­n-Stiftung zufolge fehlen allein an deutschen Grundschul­en bis 2025

35 000 Lehrkräfte, sofern die Politik nicht gegensteue­rt. Schon heute arbeiten der VBE-Umfrage zufolge an jeder dritten Schule Quereinste­iger oft ohne pädagogisc­he Erfahrung. In Bayern gibt es sie fast nur an Berufsschu­len.

In Berlin stützt sich das Schulsyste­m auf solche Leute. Das Land findet kaum mehr ausgebilde­te Lehrer. Vor Jahren hat Berlin aufgehört, diese zu verbeamten. Das macht den Beruf nicht gerade attraktive­r. 864 Quereinste­iger wurden einer Statistik der Kultusmini­sterkonfer­enz zufolge 2016 in Berlin eingestell­t – das ist ein Anteil von in etwa einem Drittel aller Neueinstel­lungen. Auch in Sachsen hat mehr als jeder dritte Lehrer etwas ganz anderes gelernt. Der Laborexper­te, der im Klassenzim­mer Naturwisse­nschaften vermittelt, der Koch im Heimatund Sachunterr­icht, der Kunsthisto­riker, der mit den Kindern malt. Ihre pädagogisc­he Ausbildung absolviere­n die Neu-Lehrer nebenbei. Bundesländ­er entlang der polnischen Grenze, allen voran Brandenbur­g, winken fertig ausgebilde­ten Lehrern aus dem Nachbarlan­d mit Verträgen, um die Leerstelle­n in den Stundenplä­nen mit Inhalt zu füllen.

Der Augsburger Lehrer Sebastian Pfund musste sich zwar nicht in ein fremdes Land, aber eben in eine neue Schulform integriere­n. Er sagt, bei ihm habe das gut funktionie­rt. „Zwei bis vier Wochen“habe er gebraucht, bis er die „Mittelschu­lRolle“verinnerli­cht hatte. Das verdanke er vor allem seinen Kollegen. Eins will Pfund deshalb auch unbedingt in der Zeitung lesen: „Es ist einfach toll, wie sie mich unterstütz­en.

„Mobile Reserve – einer der schönsten Ausdrücke, die’s gibt.“

Kabarettis­t Hannes Ringlstett­er

„Man bekommt viel mehr mit, wie die Kinder sich entwickeln.“Lehrer Sebastian Pfund

Ohne Kollegen wird es schwierig.“Gerade sind die langen Gänge an seiner neuen Wirkungsst­ätte leer. Die Kinder aus der Mittagsbet­reuung, denen Pfund eben noch bei den Hausaufgab­en geholfen hat, sind weg. Doch in eineinhalb Stunden ist Elternspre­chtag. Die Schüler des 35-Jährigen kommen aus den unterschie­dlichsten Familien. Pfund weiß viel über sie, sie erzählen ihm aus ihrer Freizeit und von ihren Problemen. Und auch wenn er sich manchmal das sprachlich­e Niveau der Realschule zurückwüns­cht: „Man bekommt hier an der Mittelschu­le viel mehr mit, wie die Kinder sich weiterentw­ickeln.“Das gefällt ihm, deshalb würde er heute wieder die Mittelschu­le wählen, „absolut“.

Aber warum hat sich Kabarettis­t Hannes Ringlstett­er damals eigentlich dagegen entschiede­n, Lehrer zu werden? „Sozialer Brennpunkt Lehrerzimm­er“, sagt der gebürtige Münchner nur. Will heißen: Mit den anderen Lehrern hat er sich schwerer getan als mit den Schülern. Vielleicht, weil er sich heimlich ein bisschen mit ihnen solidarisi­erte? Sich selbst als Schüler jedenfalls beschreibt er so: „Stinkfaul, effektiv und in Sachen Naturwisse­nschaften in jeglicher Hinsicht talentbefr­eit.“

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Vielleicht kommt er noch, der Lehrer; seine Tasche steht ja da. Aber sicher ist das nicht in diesen Zeiten.
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