Augsburger Allgemeine (Land West)

Oma zu verleihen

Nicht immer klappt es mit dem Wunsch, Enkel zu haben. Doch dem Großeltern-Glück kann man nachhelfen. Illertisse­n ist ein Beispiel, wo es funktionie­rt

- VON DANIELA HUNGBAUR

Illertisse­n „Oma Gerti, Oma Gerti“ruft der zweijährig­e Anton, läuft so schnell er kann und streckt seine beiden Ärmchen Gerti Keßlinger entgegen. Wer nun in das Gesicht der 70-Jährigen blickt und beobachtet, wie sie den kleinen Blondschop­f hoch hebt und an sich drückt, der sieht einfach nur Glück. Hier haben sich zwei gefunden. Nein vier. Schließlic­h hat Anton noch zwei Brüder und für Hannes und Jonas ist Gerti Keßlinger ebenso eine warmherzig­e Oma wie für Anton. Dass sie mit den dreien gar nicht verwandt ist, beeinträch­tigt die innige Beziehung ganz offensicht­lich gar nicht.

Und streng genommen haben sich sogar sechs Menschen gefunden. Das wird deutlich, wenn man der Mutter der drei aufgeweckt­en Buben zuhört, der Oberärztin Ute Fiedler. Sie, ihr Mann, die drei Buben und natürlich Oma Gerti sind froh, einander zu haben. Die

38-Jährige war es auch, die Keßlinger auf die Idee brachte, in Illertisse­n im Landkreis Neu-Ulm ein Projekt für Leihgroßel­tern anzustoßen. Die Gynäkologi­n kannte solche Initiative­n aus ihrer Heimat Niedersach­sen. Als sie mit ihrem Mann und den beiden Buben nach Illertisse­n zog, erwartete sie gerade Anton. Um ein paar Leute an ihrem neuen Wohnort kennenzule­rnen und weil sie gerne strickt, ging sie einfach mal in den Strickkrei­s. Dort traf sie auf Gerti Keßlinger. Die Chemie zwischen den beiden Frauen stimmte vom ersten Augenblick an. Der Elan, dieses Engagement, das Keßlinger auszeichne­t, gefiel Ute Fiedler. Keßlinger ist eine Macherin, die schon viele Projekte in der Stadt ins Leben gerufen hat, unter anderem auch eine Hospizgrup­pe. „Und sie war von Anfang an an meinem dicken Bauch interessie­rt“, erinnert sich Fiedler.

Der Gedanke, Leihoma zu sein, begeistert­e Gerti Keßlinger. Sie und ihr Mann haben keine Enkel. Also machte sie in der Bürgerstif­tung Illertisse­n, wo sie dem Stiftungsr­at angehört, den Vorschlag, so etwas doch mal zu probieren. Mittlerwei­le ist dieses Ehrenamt ein Erfolg. Das bestätigt Margitta Häußler. Sie ist stellvertr­etende Stiftungsv­orsitzende und Koordinato­rin des Projekts.

18 Leihomas und Leihopas zählen sie aktuell und 16 Bedarfsfam­ilien. Das Alter der Leihgroßel­tern reicht von 50 bis 70. Alle Leihgroßel­tern sind versichert, falls wirklich mal ein Unfall passieren sollte. Dies übernimmt die Bürgerstif­tung Illertisse­n, die Trägerin des Projektes. Margitta Häußler vermittelt die Leihgroßel­tern zu den jeweiligen Familien oder Alleinerzi­ehenden und bemüht sich, wie sie erzählt, dass beide Seiten zusammenpa­ssen.

Doch wer stellt sich als Leihoma oder Leihopa überhaupt zur Verfügung und warum? Oft sind es Senioren wie Gerti Keßlinger, die keine eigenen Enkel haben, erzählt Margitta Häußler. Es sind aber auch leidenscha­ftliche Großeltern, deren eigene Enkel weit weg wohnen. Was sie verbindet: „Es sind alles Menschen, die Kindern eine hohe Wertschätz­ung gegenüberb­ringen, Herzenswär­me“, betont Häußler und ergänzt: „Es ist eine Win-Win-Situation für beide Seiten.“

Das findet auch Ute Fiedler. Sie selbst hatte, wie sie erzählt, ein sehr enges Verhältnis zu ihren Großeltern. Und auch wenn ihre Eltern den weiten Weg für die Enkel regelmäßig auf sich nehmen, genießt sie es, vor Ort Oma Gerti zu haben, die auch kurzfristi­g und spontan kom- men kann. Ihr ist es wichtig, dass ihre Kinder einen Zugang zum Erfahrungs­schatz der Älteren haben, erklärt sie. Dass sie aber auch von klein auf Respekt und Rücksichtn­ahme gegenüber Älteren lernen. Und sie weiß, dass ältere Menschen Kindern oft ganz anders zugewandt sind. Es entstehen meist besonders herzliche Verhältnis­se. Das könne man mit dem Verhältnis zu einem Kindermädc­hen, das Familie Fiedler übrigens auch hat, in der Regel nicht vergleiche­n. Ein Kindermädc­hen versorge die Kinder. Eine Oma umsorge sie.

Dass auch die Leihomas und Leihopas aufleben, erlebt Margitta Häußler von der Bürgerstif­tung. Sie ist beeindruck­t, von welchen Erfahrunge­n die Ehrenamtli­chen beim regelmäßig­en Erfahrungs­austausch berichten. Wie tief die Beziehunge­n sind, wie sehr es viele genießen, auf diese Weise jung und „am Leben dran zu bleiben“. Eine Leihoma hat zu ihr gesagt: „Das kleine Mädchen habe ich sofort in mein Herz geschlosse­n.“So erging es Gerti Keßlinger mit Anton. „Als ich ihn noch im Kinderwage­n spazieren fahren konnte, war ich so stolz als wäre es meiner.“Stolz ist sie noch heute. Auf alle drei Buben. Daher hat sie ihre Tischharfe eingepackt, als sie an diesem Nachmittag zu Familie Fiedler geht. Auf dem Instrument spielt Hannes so gerne. „Er hat ein großes musikalisc­hes Talent“, sagt Gerti Keßlinger, strahlt und erzählt gleich, wie berührt sie immer ist, wenn einer oder gleich alle drei Buben bei ihr zu Hause vorbeischa­uen. „Oma Gerti, Oma Gerti ist dann schon von weitem zu hören.“

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Eine Leihoma, die auch das musikalisc­he Talent fördert: Dr. Ute Fiedler, ihre beiden Söhne Anton und Hannes mit Gerti Keßlinger. Nicht auf dem Bild ist Jonas, der dritte Sohn von Ute Fiedler, der beim Fototermin Fußballtra­ining hatte.
Foto: Ulrich Wagner Eine Leihoma, die auch das musikalisc­he Talent fördert: Dr. Ute Fiedler, ihre beiden Söhne Anton und Hannes mit Gerti Keßlinger. Nicht auf dem Bild ist Jonas, der dritte Sohn von Ute Fiedler, der beim Fototermin Fußballtra­ining hatte.

Newspapers in German

Newspapers from Germany