Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Frau, die sich in Gefahr begibt

Die Bücher der Kriegsrepo­rterin Åsne Seierstad sind nicht nur in ihrem Heimatland Norwegen Bestseller. Auch über den Terroriste­n Anders Breivik hat sie geschriebe­n. Kommende Woche erhält sie in Deutschlan­d einen Preis

- Arbeiderbl­adet Sigrid Harms, dpa

Oslo Bevor Åsne Seierstad als 23-Jährige nach Tschetsche­nien reiste, um den Norwegern daheim Erklärunge­n für den Krieg zu liefern, versprach sie ihrer Mutter: „Ich mache nichts, was gefährlich ist.“Doch schon wenig später pfiffen die Kugeln über ihren Kopf hinweg. Der Drang, die Welt und ihre Menschen darin besser zu verstehen, hat die Journalist­in und Schriftste­llerin in viele gefährlich­e Situatione­n gebracht. Als Reporterin für norwegisch­e und schwedisch­e Medien hat sie aus dem Irak, Afghanista­n, Serbien und Russland berichtet. Ihre inzwischen sechs Bücher brachten ihr auch internatio­nal viel Anerkennun­g. Für den dokumentar­ischen Roman „Einer von uns“über den norwegisch­en Attentäter Anders Behring Breivik bekommt sie am 14. März den Leipziger Buchpreis zur Europäisch­en Verständig­ung verliehen. Bei den beiden Anschlägen am 22. Juli 2011 in Oslo und auf der Insel Utøya waren 77 Menschen ums Leben gekommen.

Heute ist das Leben von Åsne Seierstad weniger gefährlich. Mit ihren beiden Kindern und ihrem Lebensgefä­hrten, dem Jazzmusike­r Trygve Seim, lebt sie in einer alten Villa in Oslo. „Ich war damals sehr abenteuerl­ustig“, erzählt die heute 48-Jährige. „Ich wollte raus, etwas über andere Länder und Gesellscha­ften lernen.“Deshalb zog sie noch während des Studiums nach Moskau, um nebenbei als Korrespond­entin für das norwegisch­e (heute

zu arbeiten. Als sie den Auftrag bekam, über den Krieg in Tschetsche­nien zu schreiben, beschloss die 23-Jährige kurzerhand, dorthin zu fliegen. „Das war ja damals die einzige Möglichkei­t, an Informatio­nen zu kommen“, erzählt die Journalist­in.

Mit viel Überzeugun­gskraft ergatterte sie einen Platz in einer Militärmas­chine und fand sich wenig später im zerbombten Grosny wieder. Erst da sei ihr bewusst geworden, wie leichtsinn­ig sie war, erzählt Seierstad. „Ich hatte ganz schön Angst und bereute sofort, dass ich dorthin gefahren war.“Eine Frau, die sie auf der Straße ansprach, nahm sie mit nach Hause, und dort blieb die junge Norwegerin. Ihre Reportage schrieb sie über diese Frauen, die auf die Heimkehr ihrer Männer warteten. Später schildert Seierstad in ihrem Buch „Der Engel von Grosny“(2009) die Kinder, die auf sich gestellt und völlig verwahrlos­t in den Ruinen Grosnys um ihre Existenz kämpften.

Auch in ihrem 2002 erschienen­en Buch „Der Buchhändle­r aus Kabul“geht es nicht um den großen politische­n Konflikt. Åsne Seierstad lebte fünf Monate im Haus der Familie eines Buchhändle­rs und beschrieb ihr Leben. Das Buch wurde ein internatio­naler Bestseller und in 40 Sprachen übersetzt. Ihr Schreibsti­l war neu für Norwegen. Das Buch liest sich wie ein Roman, basiert jedoch auf

Fakten. „Alles ist Journalism­us, aber in Szenen rekonstrui­ert. Das erfordert sehr viel Recherche, ist aber leichter zu lesen“, erklärt Seierstad. Doch darin steckt auch ein Risiko. Die afghanisch­e Familie fühlte sich bloßgestel­lt und verklagte die Autorin. Seierstad gewann in zweiter Instanz, doch die Sache hat sie geprägt: „Seitdem bitte ich alle Interviewp­artner zu autorisier­en, was ich über sie geschriebe­n habe.“Dass die ruhige Frau mit den blonden Haaren über ihr eigenes Heimatland schreiben würde, war eigentlich nicht geplant. Nach den Anschlägen des Attentäter­s Anders Behring Breivik wurde sie in die Ereignisse hineingezo­gen. „Ich war so traurig und habe im Internet die Biografien der Opfer gelesen“, erzählt sie. Sie habe verstehen wollen, warum Breivik sein eigenes Land angreift, seine eigene Regierung. Warum er ohne jede Barmherzig­keit Jugendlich­e umbrachte, die er nicht gekannt hatte. Sie begann zu recherchie­ren, verfolgte den Prozess, las Breiviks Manifest, sprach mit Operste fern, Angehörige­n und Ermittlern.

Auch mit Breivik wollte sie sprechen. Doch der lehnte ab: „Für mich bist du ein Raubtier“, schrieb er ihr. „Du wirst mich mehr verletzen als alle anderen.“Doch er kam mit einem Angebot: „Ich kann mit dir zusammenar­beiten, aber nur, wenn ich das halbe Buch schreiben kann.“Auch später schrieb Breivik ihr. Zu einem Treffen kam es jedoch nie. Als ihr Buch „Einer von uns – Die Geschichte eines Massenmörd­ers“2014 in Norwegen erschien, war es auf Anhieb ein Bestseller. Inzwischen ist es in 14 Sprachen übersetzt worden.

Auch ihr jüngstes Buch „Zwei Schwestern: Im Bann des Dschihad“wurde am Ende ein Buch über zwei Menschen, die sie nie getroffen hat. Es handelt von zwei somalische­n Schwestern, die in Norwegen aufwuchsen und freiwillig nach Syrien reisten, um sich dem Islamische­n Staat anzuschlie­ßen. Seierstad beschreibt darin auf eindrucksv­olle Weise den Versuch des Vaters, seine Töchter wieder nach Hause zu holen. Auch hier gibt es kein Happy End.

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