Augsburger Allgemeine (Land West)
„‚avenidas‘ war der Anfang der Bewegung, der Beginn der Konkreten Poesie“ Wort für Wort: der Dichter als Platzanweiser „Das sind so meine Überlegungen, wenn ich so etwas mache“
Eugen Gomringer Wir haben den Altmeister der Konkreten Poesie gebeten, dieses Journal für uns zu gestalten und aus den Titeln der besprochenen Bücher Neues zusammenzufügen. Ein Werkstattbesuch in Rehau
Die Stadt Rehau, im nordöstlichsten Winkel Bayerns gelegen, ist dreimal in ihrer Geschichte bis auf die Grundmauern abgebrannt. Nach der letzten Verheerung, 1817, erfolgte der Wiederaufbau nach dem Muster eines Schachbretts, und seither hat kein Brand mehr der kleinen Stadt etwas anhaben können. Rehau ist heute nicht mehr altdeutsch verwinkelt, sondern in seinen breiten, im rechten Winkel sich kreuzenden Straßen von klaren geometrischen Prinzipien bestimmt.
Eine schöne Fügung, dass gerade hier Eugen Gomringer zu Hause ist, der Vater der Konkreten Poesie, jener schnörkellos-geradlinigen Literatur, die das rein Funktionale der Sprache zum Grundsatz erhoben hat. Und wie passend zu Rehau, dass hier auch das Institut für Konkrete Kunst und Konkrete Poesie, kurz IKKP, seinen Sitz hat. In einem ehemaligen Schulhaus beherbergt es nicht nur ein Archiv zur Konkreten Poesie, hier finden auch Ausstellungen von Künstlern statt, die sich den Prinzipien des Konkreten verschrieben haben. Rehau in der vogtländischen Provinz ist somit nichts weniger als ein Zentrum der Konkreten Künste. Und das ist Eugen Gomringer zu verdanken.
Wer ihm erstmals begegnet, würde ihn für einen Endsiebziger halten. Dabei ist er vor ein paar Wochen 93 geworden, man glaubt es kaum, so vital in seiner ganzen Erscheinung der Mann ist. Seinen Journalistenbesuch empfängt er nicht zu Hause im obersten Stock des IKKP, sondern tritt ihm trotz bitterer Kälte in leichtem Sakko und bedenklich kurzem Schal schon im Hof entgegen. Rasche Begrüßung, dann kommt er gleich auf den Punkt, auf das, was ihm wichtig ist: die Konkrete Kunst, ihre literarische Spielart vor allem. Bitte, hier eintreten, in einen im Hof gelegenen Kubus mit Glasfront. „Das“, erklärt Gomringer in prägnantem Schwyzerdütsch, „ist die Zelle der Konkreten Poesie“.
In dem zimmergroßen Raum hängen an den Wänden helle Holztafeln, darauf in schwarzen Lettern Gedichte Gomringers, die berühmt geworden sind und Eingang gefunden haben in Anthologien und Literaturgeschichten – „schweigen“etwa mit der signifikanten Leerstelle in der Mitte der 14-fachen Wortwiederholung. Und gleich neben dem Eingang zur „Zelle“, auf der ersten dieser Tafeln, „avenidas“. Jene acht Zeilen über Alleen, Blumen, Frauen und einen „Bewunderer“, die seit ein paar Monaten in aller Munde sind, weil sie auf der Fassade einer Berliner Hochschule prangen und neuerdings von den Studenten für sexistisch erachtet werden, weshalb sie auch entfernt werden sollen. Ein Verskunstwerk, das für seinen Schöpfer nicht nur wegen der Berliner Posse bedeutsam ist. „Das ist nicht irgendeines meiner Gedichte – ‚avenidas‘ ist der Anfang einer ganzen Bewegung, der Beginn der Konkreten Poesie.“
Der Anfang. Früh schon ist Eugen Gomringer für die Konkrete Kunst entflammt. Als 1944 in der vom Krieg verschonten Schweiz die erste internationale Ausstellung der damals noch recht neuen Kunstrichtung stattfindet, bestaunt er, der in Zürich aufwächst, die geometrischkühlen Bildfindungen der versammelten Künstler. Schon damals keimt in ihm der Gedanke: Dieses Prinzip, jeglichem Abbildungszweck, jeglicher symbolischen Bedeutungsabsicht aus dem Weg zu gehen und sich statt dessen auf das rein Materielle, das Konkrete, zu beschränken – ließe sich dieses Prinzip nicht auch auf die Sprache übertragen?
1953 ist es soweit. Eugen Gomringers Epoche machender mehrsprachiger Gedichtband „konstellationen“erscheint, darin, gleich auf der ersten Seite und in typischer Kleinschreibung, „avenidas“. Da ist er schon Sekretär des Schweizer Künstlers Max Bill an der Ulmer Hochschule für Gestaltung. An dem legendären Institut lernt er sie kennen, die künstlerischen Baumeister der Nachkriegsmoderne, hier auch wird der Begriff festgelegt für das, was Gomringer zu Papier bringt: Konkrete Poesie. Der Tisch aus der Ulmer Hochschule, an dem die Wortfügung im gegenseitigen Gedankenaustausch gefunden wurde, steht heute in Rehau in der „Zelle“. „Dann aber musste ich auch Geld verdienen.“Gomringer ist mit seinem Besuch ins Ausstellungs-Stockwerk des IKKP hinübergewechselt, man sitzt bei Kaffee und Wasser, und der Dichter erzählt, wie es nach den Ulmer Jahren für ihn weiterging. Nur von der Lyrik kann er nicht leben, und so nimmt er Jobs bei verschiedenen Unternehmen an. Erst in der Schweiz, dann in Deutschland.
1967 wird er Kulturbeauftragter des Porzellanherstellers Rosenthal in Selb. „Da hatte ich Spesenaufgaben zu erledigen“, sagt er und lacht in sich hinein. „Spesenaufgaben, weil ich große Künstler gewinnen sollte. Das aber hat oft wochenlang gedauert, denen hinterherzureisen und sie für das Vorhaben zu gewinnen.“Rosenthal will sich mit den Entwürfen berühmter Künstler schmücken.
100 große Namen sollen es sein. Henry Moore, Ernst Fuchs, Salvador Dalí und viele andere. „50 habe ich gemacht. Dann ist Rosenthal finanziell verunglückt…“– und für mehr als einen Moment schwebt der Eindruck im Raum, das könnte auch an allzu üppigen Künstlerhonoraren gelegen haben.
Dalí war wohl die härteste Nuss. Wochenlang ist Gomringer dem berühmten spanischen Surrealisten auf den Fersen, versucht mal in Barcelona, mal in Paris und schließlich in New York mit ihm Kontakt aufzunehmen. „Am Ende habe ich ihn bekommen.“Gomringer zeigt auf eine Wand mit Dutzenden Fotos, auf einem der Abzüge sieht man den unverkennbaren schwarzen Zwirbelbart, wie er einen verzierten Porzellanteller hochhält: „Da! Den Teller da, den hat der Dalí für Rosenthal gemacht.“
Durch das Porzellanunternehmen kommt Gomringer, 1925 in Bolivien als Sohn eines Schweizer Vaters und einer bolivianischen Mutter geboren, aus der Schweiz ins Oberfränkische, wo er seither seinen Lebensmittelpunkt hat. Hier bleibt er auch, als er in den 70er Jahren eine Professur für Ästhetik-Theorie an der Düsseldorfer Kunstakademie erhält. „Meine Hauptaufgabe aber, das, was ich morgens und abends gemacht habe, das war doch immer: Gedichte schreiben.“
Gomringers literarisches Werk ist schmal, vieles ist nur in kleinen und kleinsten Auflagen erschienen, die großen Verlage machten einen Bogen um ihn, einen bedeutenden Dichterpreis hat er nie erhalten, obwohl er einer ganzen literarischen Richtung den Weg wies. Umso verdienstvoller, dass 2011 die Alice Salomon Hochschule in Berlin dem Erfinder der Konkreten Poesie ihren hauseigenen Preis zuerkannte. Damals entstand auch der Plan, eines der Gedichte auf der Fassade der Hochschule anzubringen. Gomringer erinnert sich, dass die Direktorin gerade deshalb für das auf Spanisch geschriebene „avenidas“plädierte, weil es als Zeichen der Öffnung einer deutschen Institution an einem viel von Ausländern frequentierten Platz zu verstehen wäre.
Jetzt, ein paar Jahre später, soll das Gedicht, so formuliert es der Studentenausschuss, „unangenehm an sexuelle Belästigung“erinnern, der Frauen alltäglich ausgesetzt seien. Also soll es wegkommen, hat der Senat der Alice Salomon Hochschule zu Jahresbeginn verkündet. Gomringer schüttelt den Kopf. „Mit denen kann man nicht reden“, erinnert er sich an ein Treffen mit Hochschul-Vertretern im Dezember in Rehau, „die sind so starr in ihren Ansichten.“Für ihn ist das Gezerre um „avenidas“eine zweischneidige Angelegenheit. Gewiss genießt er die Aufmerksamkeit, die ihm und damit auch der Konkreten Kunst nun zuteil wird – das Postfach quillt über vor Anfragen, und nicht wenige versuchen, sich über Gomringers Tochter Nora, selbst angesehene Lyrikerin, einen Zugang zu ihm zu verschaffen. Andererseits, „avenidas“stammt aus den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, „für mich ist das längst vergangen“.
Doch auch wenn dieser Urknall der Konkreten Poesie sich vor mehr als sechs Jahrzehnten ereignet hat, die Lust am Umgang mit dem Material Sprache ist ihm bis heute nicht abhanden gekommen. Unsere Zeitung hat deshalb Eugen Gomringer gebeten, für dieses WochenendJournal 13 exklusive „Konstellationen“zu schaffen. In der vorliegenden Ausgabe dreht sich das Journal um Buch-Neuerscheinungen des Frühjahrs, und die ausgeschnittenen Titel-Wörter aller 38 Bücher waren das Material, aus dem Gomringer seine „Konstellationen“in einen vorgegebenen Rahmen fügte. „Intentionale Konstellationen“nennt er die Ergebnisse, weil sie „nach einer festen Absicht“entstanden sind: „Ich habe nicht gewürfelt!“
Wie aber ist er beim Arrangieren verfahren? „Hier zum Beispiel“, Gomringer deutet auf eines der Blätter, „diese drei, ,Der Clan der Kinder‘ – ,Fieber‘ – ,Die heiße Milch‘, diese Reihe fand ich lustig“, hier sah er einen Bezugsraum eröffnet: Kind, Krankheit, Gesundungsmittel. Weitere Wörter auf diesem Blatt bilden ferner die Reihe „Die Geschichte der Liebe“, wer mag, kann auch lesen „Die Geschichte der Zeit“. „Aber das ist dann doch ein bisschen viel an Normalität, deshalb habe ich gedacht, da muss noch etwas Schräges hinein, eine Gegenkraft“– was auch geschah mit der Wortreihe „als der Krieg vorbei war“. Gomringer lacht. „Das sind so meine Überlegungen, wenn ich so etwas mache.“Fallweise, verrät er, hat auch die Ähnlichkeit der Typografien eine Rolle beim Verknüpfen gespielt oder eine Verwandtschaft der Farben.
Eine bestimmte Leserichtung ist nicht vorgegeben, ebenso wenig ein Anfangs- oder Endpunkt. Der Betrachter ist frei in seinem Kombinationswillen, er kann von rechts nach links, von unten nach oben oder alles in umgekehrter Richtung lesen. Und dabei vielleicht auf den einen oder anderen Gedanken stoßen, der auch Gomringer im Prozess der Realisierung leitete. „Hier, ,Kühn hat Ärger‘. Warum hat er Ärger?“Verschmitzt weist auf die entsprechende Stelle. „Der Ärger ist schon dadurch gegeben, dass ,Kühn hat Ärger‘ hier auf dem Kopf steht.“Humor ist nicht die geringste Eigenschaft dieser „Konstellationen“.
Vieles hat er noch zu erzählen über die einzelnen Blätter und Fügungen, immer deutlicher gewinnen an diesem Nachmittag im Rehauer IKKP die Prinzipien Kontur, wonach dieser Sprachkünstler die Worte setzt, wie er semantische Echoräume einrichtet und an anderer Stelle alteingefahrene Assoziationen unterläuft. Rasch vergeht die Zeit beim Zuhören; dann ist Aufbruch, Gomringer hat noch einen Termin außer Haus. Er wirft einen abschließenden Blick auf die vor ihm ausgebreiteten 13 „Konstellationen“. „Die“, sagt er entschieden, „gehören jetzt zu meiner Literatur.“ DIE FOTOS Die Aufnahmen von Eugen Gomringer entstanden vor einigen Tagen bei einem Besuch in Rehau in Oberfranken, wo der heute 93 Jahre alte Dichter lebt. Gomrin ger hat in einem alten Schulhaus sein Ar chiv und ein Museum für Konkrete Kunst eingerichtet, wo es auch eine Fotowand mit Porträts von Künstlerfreunden aus aller Welt gibt. Gomringer erläutert die Blätter, die er in Rehau für unser Journal geschaffen hat.