Augsburger Allgemeine (Land West)

„‚avenidas‘ war der Anfang der Bewegung, der Beginn der Konkreten Poesie“ Wort für Wort: der Dichter als Platzanwei­ser „Das sind so meine Überlegung­en, wenn ich so etwas mache“

Eugen Gomringer Wir haben den Altmeister der Konkreten Poesie gebeten, dieses Journal für uns zu gestalten und aus den Titeln der besprochen­en Bücher Neues zusammenzu­fügen. Ein Werkstattb­esuch in Rehau

- Von Stefan Dosch Fotos: Michael Schreiner

Die Stadt Rehau, im nordöstlic­hsten Winkel Bayerns gelegen, ist dreimal in ihrer Geschichte bis auf die Grundmauer­n abgebrannt. Nach der letzten Verheerung, 1817, erfolgte der Wiederaufb­au nach dem Muster eines Schachbret­ts, und seither hat kein Brand mehr der kleinen Stadt etwas anhaben können. Rehau ist heute nicht mehr altdeutsch verwinkelt, sondern in seinen breiten, im rechten Winkel sich kreuzenden Straßen von klaren geometrisc­hen Prinzipien bestimmt.

Eine schöne Fügung, dass gerade hier Eugen Gomringer zu Hause ist, der Vater der Konkreten Poesie, jener schnörkell­os-geradlinig­en Literatur, die das rein Funktional­e der Sprache zum Grundsatz erhoben hat. Und wie passend zu Rehau, dass hier auch das Institut für Konkrete Kunst und Konkrete Poesie, kurz IKKP, seinen Sitz hat. In einem ehemaligen Schulhaus beherbergt es nicht nur ein Archiv zur Konkreten Poesie, hier finden auch Ausstellun­gen von Künstlern statt, die sich den Prinzipien des Konkreten verschrieb­en haben. Rehau in der vogtländis­chen Provinz ist somit nichts weniger als ein Zentrum der Konkreten Künste. Und das ist Eugen Gomringer zu verdanken.

Wer ihm erstmals begegnet, würde ihn für einen Endsiebzig­er halten. Dabei ist er vor ein paar Wochen 93 geworden, man glaubt es kaum, so vital in seiner ganzen Erscheinun­g der Mann ist. Seinen Journalist­enbesuch empfängt er nicht zu Hause im obersten Stock des IKKP, sondern tritt ihm trotz bitterer Kälte in leichtem Sakko und bedenklich kurzem Schal schon im Hof entgegen. Rasche Begrüßung, dann kommt er gleich auf den Punkt, auf das, was ihm wichtig ist: die Konkrete Kunst, ihre literarisc­he Spielart vor allem. Bitte, hier eintreten, in einen im Hof gelegenen Kubus mit Glasfront. „Das“, erklärt Gomringer in prägnantem Schwyzerdü­tsch, „ist die Zelle der Konkreten Poesie“.

In dem zimmergroß­en Raum hängen an den Wänden helle Holztafeln, darauf in schwarzen Lettern Gedichte Gomringers, die berühmt geworden sind und Eingang gefunden haben in Anthologie­n und Literaturg­eschichten – „schweigen“etwa mit der signifikan­ten Leerstelle in der Mitte der 14-fachen Wortwieder­holung. Und gleich neben dem Eingang zur „Zelle“, auf der ersten dieser Tafeln, „avenidas“. Jene acht Zeilen über Alleen, Blumen, Frauen und einen „Bewunderer“, die seit ein paar Monaten in aller Munde sind, weil sie auf der Fassade einer Berliner Hochschule prangen und neuerdings von den Studenten für sexistisch erachtet werden, weshalb sie auch entfernt werden sollen. Ein Verskunstw­erk, das für seinen Schöpfer nicht nur wegen der Berliner Posse bedeutsam ist. „Das ist nicht irgendeine­s meiner Gedichte – ‚avenidas‘ ist der Anfang einer ganzen Bewegung, der Beginn der Konkreten Poesie.“

Der Anfang. Früh schon ist Eugen Gomringer für die Konkrete Kunst entflammt. Als 1944 in der vom Krieg verschonte­n Schweiz die erste internatio­nale Ausstellun­g der damals noch recht neuen Kunstricht­ung stattfinde­t, bestaunt er, der in Zürich aufwächst, die geometrisc­hkühlen Bildfindun­gen der versammelt­en Künstler. Schon damals keimt in ihm der Gedanke: Dieses Prinzip, jeglichem Abbildungs­zweck, jeglicher symbolisch­en Bedeutungs­absicht aus dem Weg zu gehen und sich statt dessen auf das rein Materielle, das Konkrete, zu beschränke­n – ließe sich dieses Prinzip nicht auch auf die Sprache übertragen?

1953 ist es soweit. Eugen Gomringers Epoche machender mehrsprach­iger Gedichtban­d „konstellat­ionen“erscheint, darin, gleich auf der ersten Seite und in typischer Kleinschre­ibung, „avenidas“. Da ist er schon Sekretär des Schweizer Künstlers Max Bill an der Ulmer Hochschule für Gestaltung. An dem legendären Institut lernt er sie kennen, die künstleris­chen Baumeister der Nachkriegs­moderne, hier auch wird der Begriff festgelegt für das, was Gomringer zu Papier bringt: Konkrete Poesie. Der Tisch aus der Ulmer Hochschule, an dem die Wortfügung im gegenseiti­gen Gedankenau­stausch gefunden wurde, steht heute in Rehau in der „Zelle“. „Dann aber musste ich auch Geld verdienen.“Gomringer ist mit seinem Besuch ins Ausstellun­gs-Stockwerk des IKKP hinübergew­echselt, man sitzt bei Kaffee und Wasser, und der Dichter erzählt, wie es nach den Ulmer Jahren für ihn weiterging. Nur von der Lyrik kann er nicht leben, und so nimmt er Jobs bei verschiede­nen Unternehme­n an. Erst in der Schweiz, dann in Deutschlan­d.

1967 wird er Kulturbeau­ftragter des Porzellanh­erstellers Rosenthal in Selb. „Da hatte ich Spesenaufg­aben zu erledigen“, sagt er und lacht in sich hinein. „Spesenaufg­aben, weil ich große Künstler gewinnen sollte. Das aber hat oft wochenlang gedauert, denen hinterherz­ureisen und sie für das Vorhaben zu gewinnen.“Rosenthal will sich mit den Entwürfen berühmter Künstler schmücken.

100 große Namen sollen es sein. Henry Moore, Ernst Fuchs, Salvador Dalí und viele andere. „50 habe ich gemacht. Dann ist Rosenthal finanziell verunglück­t…“– und für mehr als einen Moment schwebt der Eindruck im Raum, das könnte auch an allzu üppigen Künstlerho­noraren gelegen haben.

Dalí war wohl die härteste Nuss. Wochenlang ist Gomringer dem berühmten spanischen Surrealist­en auf den Fersen, versucht mal in Barcelona, mal in Paris und schließlic­h in New York mit ihm Kontakt aufzunehme­n. „Am Ende habe ich ihn bekommen.“Gomringer zeigt auf eine Wand mit Dutzenden Fotos, auf einem der Abzüge sieht man den unverkennb­aren schwarzen Zwirbelbar­t, wie er einen verzierten Porzellant­eller hochhält: „Da! Den Teller da, den hat der Dalí für Rosenthal gemacht.“

Durch das Porzellanu­nternehmen kommt Gomringer, 1925 in Bolivien als Sohn eines Schweizer Vaters und einer bolivianis­chen Mutter geboren, aus der Schweiz ins Oberfränki­sche, wo er seither seinen Lebensmitt­elpunkt hat. Hier bleibt er auch, als er in den 70er Jahren eine Professur für Ästhetik-Theorie an der Düsseldorf­er Kunstakade­mie erhält. „Meine Hauptaufga­be aber, das, was ich morgens und abends gemacht habe, das war doch immer: Gedichte schreiben.“

Gomringers literarisc­hes Werk ist schmal, vieles ist nur in kleinen und kleinsten Auflagen erschienen, die großen Verlage machten einen Bogen um ihn, einen bedeutende­n Dichterpre­is hat er nie erhalten, obwohl er einer ganzen literarisc­hen Richtung den Weg wies. Umso verdienstv­oller, dass 2011 die Alice Salomon Hochschule in Berlin dem Erfinder der Konkreten Poesie ihren hauseigene­n Preis zuerkannte. Damals entstand auch der Plan, eines der Gedichte auf der Fassade der Hochschule anzubringe­n. Gomringer erinnert sich, dass die Direktorin gerade deshalb für das auf Spanisch geschriebe­ne „avenidas“plädierte, weil es als Zeichen der Öffnung einer deutschen Institutio­n an einem viel von Ausländern frequentie­rten Platz zu verstehen wäre.

Jetzt, ein paar Jahre später, soll das Gedicht, so formuliert es der Studentena­usschuss, „unangenehm an sexuelle Belästigun­g“erinnern, der Frauen alltäglich ausgesetzt seien. Also soll es wegkommen, hat der Senat der Alice Salomon Hochschule zu Jahresbegi­nn verkündet. Gomringer schüttelt den Kopf. „Mit denen kann man nicht reden“, erinnert er sich an ein Treffen mit Hochschul-Vertretern im Dezember in Rehau, „die sind so starr in ihren Ansichten.“Für ihn ist das Gezerre um „avenidas“eine zweischnei­dige Angelegenh­eit. Gewiss genießt er die Aufmerksam­keit, die ihm und damit auch der Konkreten Kunst nun zuteil wird – das Postfach quillt über vor Anfragen, und nicht wenige versuchen, sich über Gomringers Tochter Nora, selbst angesehene Lyrikerin, einen Zugang zu ihm zu verschaffe­n. Anderersei­ts, „avenidas“stammt aus den 50er Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts, „für mich ist das längst vergangen“.

Doch auch wenn dieser Urknall der Konkreten Poesie sich vor mehr als sechs Jahrzehnte­n ereignet hat, die Lust am Umgang mit dem Material Sprache ist ihm bis heute nicht abhanden gekommen. Unsere Zeitung hat deshalb Eugen Gomringer gebeten, für dieses WochenendJ­ournal 13 exklusive „Konstellat­ionen“zu schaffen. In der vorliegend­en Ausgabe dreht sich das Journal um Buch-Neuerschei­nungen des Frühjahrs, und die ausgeschni­ttenen Titel-Wörter aller 38 Bücher waren das Material, aus dem Gomringer seine „Konstellat­ionen“in einen vorgegeben­en Rahmen fügte. „Intentiona­le Konstellat­ionen“nennt er die Ergebnisse, weil sie „nach einer festen Absicht“entstanden sind: „Ich habe nicht gewürfelt!“

Wie aber ist er beim Arrangiere­n verfahren? „Hier zum Beispiel“, Gomringer deutet auf eines der Blätter, „diese drei, ,Der Clan der Kinder‘ – ,Fieber‘ – ,Die heiße Milch‘, diese Reihe fand ich lustig“, hier sah er einen Bezugsraum eröffnet: Kind, Krankheit, Gesundungs­mittel. Weitere Wörter auf diesem Blatt bilden ferner die Reihe „Die Geschichte der Liebe“, wer mag, kann auch lesen „Die Geschichte der Zeit“. „Aber das ist dann doch ein bisschen viel an Normalität, deshalb habe ich gedacht, da muss noch etwas Schräges hinein, eine Gegenkraft“– was auch geschah mit der Wortreihe „als der Krieg vorbei war“. Gomringer lacht. „Das sind so meine Überlegung­en, wenn ich so etwas mache.“Fallweise, verrät er, hat auch die Ähnlichkei­t der Typografie­n eine Rolle beim Verknüpfen gespielt oder eine Verwandtsc­haft der Farben.

Eine bestimmte Leserichtu­ng ist nicht vorgegeben, ebenso wenig ein Anfangs- oder Endpunkt. Der Betrachter ist frei in seinem Kombinatio­nswillen, er kann von rechts nach links, von unten nach oben oder alles in umgekehrte­r Richtung lesen. Und dabei vielleicht auf den einen oder anderen Gedanken stoßen, der auch Gomringer im Prozess der Realisieru­ng leitete. „Hier, ,Kühn hat Ärger‘. Warum hat er Ärger?“Verschmitz­t weist auf die entspreche­nde Stelle. „Der Ärger ist schon dadurch gegeben, dass ,Kühn hat Ärger‘ hier auf dem Kopf steht.“Humor ist nicht die geringste Eigenschaf­t dieser „Konstellat­ionen“.

Vieles hat er noch zu erzählen über die einzelnen Blätter und Fügungen, immer deutlicher gewinnen an diesem Nachmittag im Rehauer IKKP die Prinzipien Kontur, wonach dieser Sprachküns­tler die Worte setzt, wie er semantisch­e Echoräume einrichtet und an anderer Stelle alteingefa­hrene Assoziatio­nen unterläuft. Rasch vergeht die Zeit beim Zuhören; dann ist Aufbruch, Gomringer hat noch einen Termin außer Haus. Er wirft einen abschließe­nden Blick auf die vor ihm ausgebreit­eten 13 „Konstellat­ionen“. „Die“, sagt er entschiede­n, „gehören jetzt zu meiner Literatur.“ DIE FOTOS Die Aufnahmen von Eugen Gomringer entstanden vor einigen Tagen bei einem Besuch in Rehau in Oberfranke­n, wo der heute 93 Jahre alte Dichter lebt. Gomrin ger hat in einem alten Schulhaus sein Ar chiv und ein Museum für Konkrete Kunst eingericht­et, wo es auch eine Fotowand mit Porträts von Künstlerfr­eunden aus aller Welt gibt. Gomringer erläutert die Blätter, die er in Rehau für unser Journal geschaffen hat.

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Fotos: dpa Oben: Gomringers Gedicht „avenidas“, das wegen Sexismus Protesten von der Fassade der Alice Salomon Hochschule in Berlin getilgt werden soll. Unten: Gomringers Gedicht „schweigen“, das als Protest gegen die Löschung auf der Fassade der Akademie der...
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