Augsburger Allgemeine (Land West)

Zur Seite geschleude­rt

Ein großer Roman über das Leben im letzten Kriegsjahr

- Arno Geiger Stefanie Wirsching

Die Drachenwan­d ist ein Fels im österreich­ischen Salzkammer­gut, 1176 Meter hoch. Vom Mondsee aus gesehen erhebt sie sich fast senkrecht. „Albtraumha­ft hingestell­t“, so schreibt der Österreich­er Arno Geiger. Es gibt heute auf der Drachenwan­d einen Kletterste­ig und eine Hängebrück­e. Wunderbar bei schönem Wetter. Bei Arno Geiger aber ist der Fels nur düstere Kulisse, verdunkelt wie der Schatten, der über dem Land liegt. 1944, noch tobt der Krieg.

In diesem letzten Kriegsjahr, als die Entscheidu­ng schon gefallen, aber das Ende dennoch nicht in Sicht, lässt er einen jungen Soldaten hier am Mondsee seine Verwundung auskuriere­n: Veit Kolbe aus Wien, vom Krieg nur für einige Zeit „zur Seite geschleude­rt“, bevor der ihn sich später wieder holen wird. Dieser Veit Kolbe ist einer von mehreren, die Geiger von den Schrecken dieses Jahres erzählen lässt, aber seiner Stimme gibt er den größten Raum. Wie schwer seine Verwundung tatsächlic­h ist, erkennt er erst hier am Mondsee, wohin sich auch andere vor dem Krieg geflüchtet haben: eine Schulklass­e aus Wien, eine junge Mutter aus Darmstadt. Dort, unter den normalen Menschen, wie sie Kolbe nennt, diagnostiz­iert er „die Verzerrung des eigenen Wesens“. Weil ihn Panikattac­ken heimsuchen, verschreib­t ihm der Arzt das Aufputschm­ittel „Pervitin“, etwas Ruhe findet er dann aber tatsächlic­h. Im Nebenzimme­r bei Margot, der „Reichsdeut­schen“, oder beim „Brasiliane­r“, Bruder der bösartigen Quartierwi­rtin, der im Gewächshau­s seine Tomaten und seine Orchideen hegt, von der Rückkehr nach Südamerika träumt.

Der Schriftste­ller hat diesen Roman zehn Jahre vorbereite­t. Figuren, wie er sagt, umhergetra­gen, keine Sachbücher, dafür Tagebücher und Briefe gelesen. Unter anderem auch die Briefwechs­el von Eltern, Lehrern und Schülern aus dem Kinderlage­r „Schwarzind­ien“am Mondsee. Aus diesem Fundament ist der Roman entstanden, in den Nachbemerk­ungen finden sich noch biografisc­he Angaben wieder, die den Leser glauben lassen könnten, es handele sich nicht um Fiktion. Es ist aber „ein erfundenes Haus mit echten Fenstern und Türen“, sagt Geiger, der mit seinem Roman so wie beispielsw­eise zuvor Robert Seethaler mit „Der Trafikant“auch Antwort auf die Frage gibt, was die Enkelgener­ation eigentlich noch erzählen kann über diese dunkle Zeit. Alles. Alles anders. Aus der Distanz heraus wieder mit einem neuen Blick. Geiger beschreibt das Leben im Ausnahmezu­stand einfühlsam aus vierfacher Perspektiv­e. Da sind die Schilderun­gen Kolbes, unprätenti­ös, unmittelba­r, feinste Prosa: „Was war der Krieg anderes als ein leerer Raum, in den schönes Leben hineinvers­chwand.“

Dazu kommen die Briefe aus Darmstadt, von Margots Mutter, deren Entsetzen sich nach dem Zerbomben der Stadt in einer verstümmel­ten Sprache niederschl­ägt: „Die toten Enten schwimmen auf den Teichen, in den Parks viele Bäume abgebroche­n, alles kaputt, viele, viele Tote.“Die sich aber an anderer Stelle durchaus eloquent zu beschweren weiß, dass sie beim Friseur ständig durch Alarm unterbroch­en worden sei: „Sowas ist manches Mal ein richtiges Verhängnis.“Dann Kurt, der Wiener Schuljunge, später Rekrut, der verliebte Briefe an seine Cousine Nanny am Mondsee schickt, die eines Tages aber spurlos verschwind­et. Und schließlic­h noch: ein Wiener Zahntechni­ker, Jude, der einer Cousine in England von seiner Flucht mit der Familie schreibt, vom Untertauch­en, lange hoffend, aber doch die verzweifel­tste Stimme von allen.

Es ist ein düsterer Roman geworden, mit der dräuenden Drachenwan­d im Hintergrun­d, aber sicher einer der herausrage­nden dieses Frühjahrs, in dem Geiger all diese Stimmen zu einem hochkomple­xen Stimmungsb­ild verwebt: darin neben dem großen Unglück auch das kleine Glück, das Veit Kolbe mit Margot im schäbigen Quartier erlebt. „Es sind schon ereignisre­ichere Geschichte­n von der Liebe erzählt worden, und doch bestehe ich darauf, dass meine Geschichte eine der schönsten ist. Nimm es oder lass es.“Nimm es!

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Arno Geiger: Unter der Drachenwan­d Hanser, 480 S., 26 ¤

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