Augsburger Allgemeine (Land West)

Bohrungen einer Lyrikerin

- Stefanie Wirsching

Man kann diesen Roman an jeder beliebigen Seite aufschlage­n und sich an Sätzen festlesen. Es schreibt: eine Lyrikerin, dichtet und verdichtet. Seite 300 zum Beispiel: „Und es war die Müdigkeit und der Mittag und die Glocken, die er zum wievielten Mal hörte, die ihn dort hinuntertr­ieben wie ein Stück Vieh auf dem abgefresse­nen Hang, durstig, und etwas ängstlich vor diesem Himmel, der sich nun zu allen Seiten dehnte.“Kein Dahinpläts­chern, daher auch kein Weglesen, sondern jedes Wort fein gesetzt und Sätze, auf die man sich einlassen muss im hochpoetis­chen Debütroman von Anja Kampmann, Jahrgang 1983, nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse.

In „Wie hoch die Wasser steigen“erzählt sie vom Bohrarbeit­er Wenzel, der nach dem Tod seines Kollegen und besten Freundes sich auf eine Reise quer durch Europa begibt, über Ungarn, Italien, das Ruhrgebiet, Polen – ein Taumeln, eine Odyssee, ein Suchen nach Heimat und Identität. Sechs Jahre lang ist er mit seinem Freund von Bohrinsel zu Bohrinsel gezogen, hat die Kabine geteilt und gemeinsam auch das hart verdiente Geld auf Land wieder rauschhaft verschleud­ert. Dann stirbt der Freund während eines Sturms im aufgewühlt­en Atlantik, Betriebsun­fall. Es sind Tiefenbohr­ungen, die Kampmann betreibt. Sie fördert Bilder zutage, in denen die raue Welt auf der Ölplattfor­m nicht unwirklich­er erscheint als die Zechensied­lung im Ruhrpott.

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