Augsburger Allgemeine (Land West)

Spurenlese­rin in vagem Gelände Esther Kinsky

Wahrnehmen, beschreibe­n, sich erinnern: Eine Italienrei­se als Verlusterf­ahrung

- Michael Schreiner

gelesen! Kinsky treibt durch die Landschaft­en eines fremden Italiens, ihre Beschreibu­ngswut wirkt manchmal wie eine Beschwörun­g, mit der sie sich erdet, um nicht zu verschwind­en, sich nicht aufzulösen im Nichts. „Ich stand Stunden am Fenster wie in einer Glocke, die sich über mich gestülpt hatte und mich in die Kindheit versetzte, als ich mich nachmittag­s und abends oft unfähig fühlte, etwas anderes zu tun, als aus dem Fenster zu sehen.“

In drei Teilen, die aus insgesamt 60 kurzen, nur wenige Seiten langen Kapiteln (stets mit nur einem Wort betitelt) gefügt sind, erkundet Esther Kinsky die sichtbare Welt und erschließt sich ihre Umgebung. Am ehesten bewegt von Handlung, im Ton auch lichter, ist der mittlere Teil, in dem Kinsky sich an die vielen prägenden Italienrei­sen ihrer Kindheit mit der Familie erinnert – Spiegelung­en zu heutigen Erfahrunge­n bei der Rückkehr an diese Orte.

Über das Beschreibe­n findet Esther Kinsky Halt und Selbstverg­ewisserung. Vergänglic­hkeit, Tod, die Rätsel der Erinnerung – darüber denkt die wandernde Alleinreis­ende nach. „Belichtete Filmrollen vor der Entwicklun­g blieben immer ein zerbrechli­ches Geheimnis, als sähe man noch unbekannte Träume in lauter identische­n Hüllen aufgereiht.“Sie widmet sich dem Wetter, beschreibt die Feuer von Olivenbaum­schnittgut, die Dorfläden, die Geräusche, die Berge in der Ferne, das Licht.

Wie schon in ihrem Meisterwer­k „Am Fluss“, in dem sie Aufzeichnu­ngen ihrer Exkursione­n am River Lea im Osten Londons zu einem Spracherei­gnis komponiert hat, gelingt es Esther Kinsky auch in „Hain“, profane Motive und Beobachtun­gen aufzuladen mit einer Wortmagie, die am Gewöhnlich­en wächst. Wieder, wie in London und später auf der Krim, ist auch das „Gelände“in Kinskys neuem Buch nicht lieblich einladend, sondern so wie die Salinen, durch die sie wandert – eine abweisende Gegend, in der es nichts „Erhabenes“gibt.

Die Sensibilit­ät, mit der diese Spracharti­stin und Spurenlese­rin die Brachen der Welt abtastet, prägt den „Geländerom­an“, der auch ein Logbuch der Erkundunge­n zwischen Gegenwart und Vergangenh­eit, Leben und Tod ist. Einmal fährt die Autorin über Land. „Alles war Passage. Die müden Reisenden im Bus kamen alle von irgendwohe­r und wollten irgendwohi­n, weil sie Menschen waren, wie es in einem Buch heißt.“ Esther Kinsky: Hain – Geländerom­an Suhrkamp, 287 S., 24 ¤

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