Augsburger Allgemeine (Land West)
Waschechtes Schlawinertum in Schwabing
Nach seinem Bestseller „Konzert ohne Dichter“, in dem er unterhaltsam und klug von der Künstlerkolonie Worpswede und der fragilen Freundschaft zwischen dem Maler Heinrich Vogeler und dem Dichter Rainer Maria Rilke erzählte, legt der routinierte Autor Klaus Modick einen weiteren „Künstlerroman“vor. Auch in „Keyserlings Geheimnis“taucht Modick wieder ein in das Künstlermilieu um die Jahrhundertwende. Und wie in „Konzert ohne Dichter“, das er um das VogelerGemälde „Sommerabend“komponierte, setzt Modick auch diesmal ein Gemälde ins Zentrum – ein Bildnis des Schriftstellers Eduard von Keyserling aus der Hand von Lovis Corinth. Keyserling, dem in Schwabing gestrandeten syphiliskranken Dandy aus baltischem Adel, gilt das Hauptinteresse Modicks. Genauer: einem lange zurückliegenden Skandal, der das Leben Keyserlings prägte und ihn zum Schriftsteller machte. Modick lässt viele Figuren der Münchner Boheme auftreten – Wedekind, Corinth, den Dramatiker Max Halbe –, doch die bleiben bloß Staffage. Der Künstlerroman kommt über die muntere Kolportage kaum hinaus. Da ist Keyserling ein „waschechter“Graf, Schwabing die „Hauptstadt des Schlawinertums“, da vernimmt man in Wien „muntere Drehorgelklänge“. Über Ganghofer heißt es in dem Roman, der Heimatdichter lange „zu oft in den Schmalztopf“und schaue „zu tief ins Kitschglas.“Diesen Vorwurf aber muss sich Modick diesmal selbst machen. Klaus Modick: Keyserlings Geheimnis Kiepenheuer & Witsch,
240 S., 22 ¤
Eine Frau reist nach Süden. Allein. Es ist kalt in diesem Italien. Die Landschaft ist leer und verlassen, die Orte, an denen sie sich aufhält, sind wintertot. Olevano, Chiavenna, Comacchio. Drei Stationen hat diese Reise entlang der kahlen Rückseiten des Sehnsuchtslandes. Der Wind fegt über die Friedhöfe, auf die es die Besucherin zieht. Esther Kinsky, 61, mit Literaturpreisen überhäufte, aber noch immer wenig bekannte Schriftstellerin und literarische Übersetzerin, hat ein Trauerbuch geschrieben. Sie ist diese Frau, die durch ein unwirtliches Italien reist und den Verlust ihres Lebensgefährten verarbeitet, indem sie sich der „vagen kalten Südlichkeit“aussetzt und durch „unbekanntes Gelände“streift.
In ihrem für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Werk „Hain“, das den seltsamen, aber im Verlauf der Lektüre wahrhaftig eingelösten Untertitel „Geländeroman“trägt, heißt dieser betrauerte Lebensmensch nur „M.“– und die Diskretion, mit der die Autorin von ihrem Schmerz und ihren Erinnerungen erzählt, ist eine der Stärken dieses berührenden, bewegenden, poetisch feinsinnigen Sprachkunstwerks. Dieses Buch ist ein Requiem für die Toten. Die Kinsky unbekannten Toten auf den Friedhöfen, deren Fotos auf den Grabsteinen flehen, nicht vergessen zu werden, den toten Gefährten, M., aber auch den toten Vater, mit dem die Autorin so oft in Italien war.
M. – es handelt sich um den 1948 in Schottland geborenen Autor und Übersetzer Martin Chalmers, der 2014 in Berlin starb – war nicht nur der geliebte Partner Kinskys. Er führte ein literarisches Aufmerksamkeits-, ein Wanderleben mit ihr, die beiden sahen, deuteten und notierten zusammen, was sich in dem gemeinsam verfassten Buch „Karadag Oktober 13. Aufzeichnungen von der kalten Krim“nachvollziehen ließ, das 2014 im Todesjahr Chalmers erschienen ist.
Nun also ist Esther Kinsky allein unterwegs, betrachtend, beschreibend, durch die Gegend, durch das Gelände gehend. Immer gegenwärtig sind die „möglichen Flüche der Hinterbliebenschaft: die Beschwerung von Dingen mit Zeugenschaft“. In Olevano bei Rom, wo sie sich für einsame Winterwochen einquartiert hat, liest sie die Welt und durchlebt, wie eine Verlusterfahrung den Blick filtert. „Erinnerungen an Tätigkeiten schlugen innen an meine Schädeldecke, als schwappe da ein Meer, aus dessen Tiefe sie verzerrt aufgestiegen waren. Ankleiden. Waschungen. Anlegen von Verbänden. Auflegen der Hand.“