Augsburger Allgemeine (Land West)

Die Zwei – das Finale Elena Ferrante

Band vier der neapolitan­ischen Saga. Es bleibt: ein Leseerlebn­is

- Stefanie Wirsching

Deutungsho­heit über die eigene Geschichte zu behalten. Denn, wovor Lenu nach all den Jahren noch immer Angst hat, ist, im Vergleich mit der Freundin trotz allen Fleißes und aller Auszeichnu­ngen als die angepasste, langweilig­e Mittelmäßi­ge dazustehen. „Und wenn nun aus ihren Dateien irgendwann eine Erzählung entsteht, die bei weitem besser ist, als es meine sind? Wenn ich nun wirklich nie einen denkwürdig­en Roman geschriebe­n habe und sie, sie dagegen seit Jahren an einem schreibt und schreibt?“, fragt sich Lenu. Rivalität bis zum Ende.

Das also ist es, das düstere grande Finale! Nach mehr als 2000 Seiten, in denen Ferrante diese Hassliebe ausgeleuch­tet hat bis ins letzte Detail, vor keinem noch so bösen Gedanken zurückgesc­hreckt ist und und in denen sie anhand der beiden Frauenschi­cksale auch nahezu beiläufig sechs Jahrzehnte italienisc­her Nachkriegs­geschichte erzählt hat.

Als Frauenlite­ratur wurde der erste Roman noch manchmal spöttisch tituliert, auch, weil Ferrante so eingängig, ja süffig aus dem Alltag der Heldinnen erzählt, Cliffhange­r einsetzt, es dem Leser also leicht macht. Aber natürlich ist diese Saga weit mehr: Bildungsro­man, Emanzipati­onsgeschic­hte, Gesellscha­ftsporträt. Im Gesamten ein Leseerlebn­is. Im privaten Schicksal spiegelt sie das Schicksal des Landes. Wer den Werdegang des Opportunis­ten Nino verfolgt zum rechten Parlamenta­rier, kann sich über Berlusconi­s Rückkehr kaum mehr wundern.

Gerne würde man schreiben, dass der vierte Band an die Magie des ersten heranreich­t. Das tut er nicht. Er hat Längen. Und trotz aller Seelenschü­rferei und ständigem Identitäts­gekreisel – warum eine Schriftste­llerin, die sich mit Mühe ihren Dialekt abtrainier­t, mit feministis­chen Werken sich ins intellektu­elle Milieu geschriebe­n hat, zurück ins alte Elendsvier­tel zieht, das die Camorra mittlerwei­le mit Drogen geflutet hat, ihre Kinder dort aufwachsen lässt, bleibt rätselhaft. Weit rätselhaft­er als das Verschwind­en von Lila, die nach dem Verlust ihrer Tochter sich für die Außenwelt allmählich in eine schrullige Alte verwandelt, ihren leuchtende­n Verstand verbirgt, bevor sie ganz verschwind­et… „Ich sehne mich nach ihrer Einmischun­g“, schreibt Lenu.

Die Sehnsucht der Leser aber bedient demnächst das Fernsehen:

RAI und der US-Sender HBO drehen eine 32-teiligen Serie. Falls man also nicht mehr weiß, mit wem noch mal Alfonso …

 ??  ?? Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen Kindes
Aus dem Italienisc­hen von Karin Krieger, Suhrkamp, 614 S., 25 ¤
Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen Kindes Aus dem Italienisc­hen von Karin Krieger, Suhrkamp, 614 S., 25 ¤

Newspapers in German

Newspapers from Germany