Augsburger Allgemeine (Land West)

Wahrheit und Leben

Wolfram Eilenberge­r Toll: Die Dramen großer Denker

- Wolfgang Schütz

Da sind unglaublic­he Geschichte­n wie diese: Ein junger Denker aus sehr reichem Hause, dem es zu seinem Bedauern nicht gelungen ist, im Krieg getötet zu werden, bringt von der Front ein Manuskript mit, das dann durch die Fürsprache des prominente­sten Philosophe­n jener Zeit, Bertrand Russell, veröffentl­icht wird. Daraufhin schenkt er sein gesamtes Vermögen, mehrere hundert Millionen, seinen verblieben­en Geschwiste­rn (drei Brüder hatten Selbstmord begangen) und zieht als Lehrer in die tiefste Provinz. Mit dem Büchlein seien alle Fragen der Philosophi­e endgültig geklärt – jetzt gehe es ins wahrhaftig­e Leben.

In diesem geben ihm Schüler jedoch solche Antworten, dass er Hefte auf Köpfe haut, bis nur noch Fransen übrig sind. Als jenes tragische und cholerisch­e Genie darum einige Jahre später, verarmt und verzweifel­t, wieder aus der Versenkung auftaucht, wird der prominente­ste Ökonom jener Zeit, John Maynard Keynes, am 18. Januar 1929 in Cambridge notieren: „Gott ist angekommen, ich traf ihn im Fünf-UhrFünfzeh­n-Zug.“Es ist die Geschichte von Ludwig Wittgenste­in und seinem „Tractatus logico-philosophi­cus“. Aber dieses tragische Genie ist nur eine von vier großen Figuren, mit denen Wolfram Eilenberge­r in „Zeit der Zauberer“das Zwischenkr­iegs-Jahrzehnt durchschre­itet – und dabei auch zentrale vertrackte Werke erklärt.

Hinzu nämlich kommt: Martin Heidegger, der sein wahrhaftig­es Leben in einer Schwarzwal­dhütte findet, mit „Sein und Zeit“ein Buch schreibt, das allen Existenzia­listen zugrunde liegen wird, und sich bald darauf mit den Nazis einlässt. Hinzu kommt Ernst Cassirer, mit dem Heidegger 1929 zum legendären Denker-Duell in Davos zusammenko­mmt: Für den da bereits in Deutschlan­d geschmähte­n Juden ist der Lebenstrau­mort eine Hamburger Privat-Bibliothek, die mit dem Erbe des Kulturwiss­enschaftle­rs Aby Warburg alles enthält, was Cassirer für die Entwicklun­g seiner Lehre von den symbolisch­en Formen braucht. Hinzu kommt Walter Benjamin, ebenfalls geschmähte­r Jude und zudem verpönter Kriegsverw­eigerer, der Heidegger hasst und um Cassirers Fürsprache ringt: genial, glücklos, ein Umherirren­der, viel zu unorthodox für den Universitä­tsbetrieb. Und in Essays wie „Goethes Wahlverwan­dtschaften“rechnet er eigentlich umfassende­r mit der bürgerlich­en Ehe als solche ab, während seine eigene Ehe zwischenze­itlich in eine Vierecks-Geschichte ausufert …

Wittgenste­in, Heidegger, Cassirer, Benjamin also. „Das große Jahrzehnt der Philosophi­e“nennt der aus Fernsehen („Sternstund­e Philosophi­e“im Schweizer TV), Presse („Philosophi­e Magazin“) und Buch („Finnen von Sinnen“) bekannte Wolfram Eilenberge­r darum diese Zeit. Sie ist aber freilich auch geprägt von den Verheerung­en des Ersten Weltkriegs (in denen Heideggers mythisches Raunen geradezu heilsam wirkt), von der Not durch die Inflation und dem Heraufzieh­en der nächsten Katastroph­e. Der Autor vermag beides: Pointiert über das Leben schreiben und fachkundig in das Denken einzuführe­n; das Leben seiner Protagonis­ten mit ihrem Denken zu verknüpfen; die Protagonis­ten in einer gemeinsame­n Zeit zu verorten und sie in ihren Kontrasten kenntlich zu machen.

„Sollte es eine Überzeugun­g geben, die Wittgenste­in, Heidegger, Benjamin und Cassirer in diesem (und jedem anderen) Stadium ihres Denkens umstandslo­s und unbedingt bejaht hätten, dann war es die folgende: Die menschlich­e Lebensform ist eine des Sprechens. Die Sprache … ist der eigentlich­e Boden unseres jeweiligen Selbst- und Weltverstä­ndnisses.“Fasziniere­nd, wie vielfältig dieses Sprechen sein kann.

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Wolfram Eilenberge­r: Zeit der Zauberer Klett Cotta, 400 S., 25 ¤

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