Augsburger Allgemeine (Land West)

Warum 1918 alles verändert hat Schicksals­jahr

Endlich Frieden! Aber die Revolution in Deutschlan­d scheitert – und eine Krankheit tötet noch viel mehr Menschen als der Erste Weltkrieg

- Wolfgang Schütz Matthias Zimmermann

In Deutschlan­d kann es keine Revolution geben, weil man dazu den Rasen betreten müsste.“Stalin soll das gesagt haben. Womöglich auch Lenin. Ist zwar ein beträchtli­cher Unterschie­d, funktionie­rt als Kontrastmi­ttel zu dem, was sich hier vor 100 Jahren zugetragen hat, aber beides. Unter Stalin starben Millionen im Terror gegen die eigene Bevölkerun­g, Lenin befahl politische Säuberunge­n, installier­te Rote Armee und Geheimdien­st. Und die Deutschen 1918? Scheiterte­n sie, weil sie zu viel Angst hatten, ihr Weg könnte in die Gewalt führen? Begründete das den Ruf? „Wer hat uns verraten? Sozialdemo­kraten!“

Der Historiker Joachim Käppner hat die entscheide­nden Monate in „1918 – Aufstand für die Freiheit“umfassend aufgearbei­tet und kommt zu einer Verschränk­ung von zweierlei Gründen. Er nennt die Geschehnis­se einerseits eine „deutsche Revolution“, weil: „Viel größer als zur eigenen Basis ist jedoch das Vertrauen (Friedrich) Eberts und seiner führenden Genossen in die Heeresleit­ung und die alte Generalitä­t, die erst ein Jahrzehnt zuvor den Straßenkri­eg gegen die Sozialdemo­kraten als ‚inneren Feind‘ hatten planen lassen.“Deutsch: Zu viel Angst vor den Konsequenz­en der Macht nach dem Sturz des Kaisers und vor der ohne militärisc­he Hilfe womöglich unkontroll­ierbaren Gewaltbere­itschaft der eigenen Anhänger also.

Anderersei­ts aber spielen auch die Siegermäch­te des Ersten Weltkriegs eine entscheide­nde Rolle. Revolution­äre, die Käppner sympathisc­her sind als Ebert, wie Scheideman­n, Barth und Haase, zeigten sich schockiert von den diktierten Bedingunge­n. Wilhelm Dittmann, ein nimmermüde­r, linker Kriegsgegn­er, notierte: „Der siegreiche EntenteMil­itarismus ließ das revolution­äre Deutschlan­d für die Sünden des kaiserlich­en Regimes büßen.“Und so musste etwa auch die revolution­äre USPD zustimmen, die Oberste Heeresleit­ung im Amt zu lassen, weil nur so in der Frist von 15 Tagen ein irgendwie geordneter Rückzug der Soldaten von der Westfront möglich erschien. Die alten Kräfte blieben bewaffnet, die neuen zaudernd, zerstritte­n – so zerbarst der Traum, die Revolution war nach wenigen Monaten zu Ende, der Rest, so Käppner: „jahrelange­r Bürgerkrie­g“.

Dabei hatte alles so anders begonnen, im Gegensatz zu Russland, aber auch Frankreich einst, deutsch: Als am 29. Oktober im „Kieler Matrosenau­fstand“die Besatzung des Schlachtsc­hiffs Thüringen sich dem Fortführen des Kriegs verweigert­e, als am 9. November die Naumburger Jäger sich weigerten, gegen „die Roten“vorzugehen – eine Revolution ohne Schuss, mit „Soldaten, die sich für die Freiheit erheben, ihren Offizieren den Degen wegreißen und Schluss machen wollen mit der Herrschaft der Generäle.“Der Kieler Anführer Lothar Popp wird sich später erinnern: „Ich habe nicht im Traume gedacht, dass die Welt so verrückt ist und die Offiziere noch einmal kommandier­en lässt.“

Aber die dunkle Saat konnte aufgehen, die Ludendorff bereits am 1. Oktober bei einer Besprechun­g mit seinen Offizieren ausgebrach­t hatte, laut Käppner „eine der erfolgreic­hsten Verschwöru­ngstheorie­n der Weltgeschi­chte“. Der Kriegsgene­ral erklärte, er habe den Kaiser gebeten, „diejenigen Kreise an die Regierung zu bringen, denen wir es in der Hauptsache zu danken haben, dass wir so weit gekommen sind“. Gemeint: die demokratis­chen Parteien im Reichstag. Die Propaganda­fährte zum Zweiten Weltkrieg ist gelegt.

Der größte Killer des 20. Jahrhunder­ts – je nach Schätzung fallen ihm zwischen 50 und 100 Millionen Menschen zum Opfer – bleibt über Jahrzehnte unter dem Radar der breiten Öffentlich­keit. Erst heute, 100 Jahre nachdem er seine Spur von Tod und Verheerung über den Globus gezogen hat, haben Forscher die Daten und Analysemet­hoden zur Verfügung, um aus einer schier unüberscha­ubaren Fülle von Beobachtun­gen eine fast lückenlose Indizienke­tte zu knüpfen. Schuld am massenhaft­en Sterben zu Beginn des 20. Jahrhunder­ts ist die Spanische Grippe. Und wir sind gut beraten, diesen Fall gründlich zu studieren. Denn bis ein neues, mutiertes Grippeviru­s auftaucht, das eine neue Pandemie auslösen könnte, ist es nur eine Frage der Zeit.

Diese Thesen vertritt die britische Wissenscha­ftsjournal­istin Laura Spinney in ihrem bahnbreche­nden Sachbuch über die Spanische Grippe – und hinterlegt sie mit einer Reihe plastische­r Beispiele. Jeden dritten Erdbewohne­r infiziert die Spanische Grippe – rund 500 Millionen Menschen. Am 4. März 1918 wird der erste Fall aktenkundi­g. Im März 1920 gilt die Epidemie als überstande­n. 2,5 bis 5 Prozent der Weltbevölk­erung sterben in nur zwei Jahren – wahrschein­lich mehr als in zwei Weltkriege­n zusammen.

Die Frage, wo das Virus erstmals auftritt, kann immer noch nicht endgültig beantworte­t werden. Viel spricht dafür, dass der heimtückis­che Erreger im amerikanis­chen Armeecamp Funston im tiefsten Kansas seinen Siegeszug beginnt. Mit den kaserniert­en Soldaten, die dort für ihren Einsatz in Europa gedrillt werden, kommt er über den Atlantik und später weiter in die ganze Welt. In den Schützengr­äben der Westfront findet der Virus, was er zum Überleben braucht: viele Menschen auf engem Raum, deren Immunsyste­m völlig unvorberei­tet auf den neuen Erreger ist.

Nach bald fünf verheerend­en Kriegsjahr­en setzt die deutsche Heeresführ­ung im Frühjahr 1918 auf eine letzte, entscheide­nde Offensive. Deren Scheitern – und damit der Ausgang des Krieges und alles, was ihm folgt – könnte auch von der Spanischen Grippe beeinfluss­t sein. Jedenfalls sind in jenem Frühjahr 900 000 deutsche Soldaten durch die Influenza außer Gefecht gesetzt. Aber auch französisc­he und britische Lazarette sind hoffnungsl­os überfüllt…

Es sind diese Querverbin­dungen, die Spinney an vielen Stellen zieht, die einen völlig neuen Blick auf eine Zeit erlauben, die uns seltsam nah und fern in einem erscheint. Antibiotik­a sind noch nicht erfunden. Gegen die Grippe könnten sie zwar nichts ausrichten. Aber viele der Kranken sterben an bakteriell­en Folgeinfek­tionen, vor allem schweren Lungenentz­ündungen. Viren sind unbekannt, Ärzte stehen der Krankheit fast genauso hilflos gegenüber wie die Erkrankten. Es ist diese Mischung aus Faszinatio­n und Gruseln, die Spinney so meisterhaf­t erzeugt, die das Buch spannend macht wie einen Thriller.

Der Krieg bringt nicht nur Tod und Verheerung, er sorgt auch dafür, dass politische und gesellscha­ftliche Ordnungen kollabiere­n. Die Spanische Grippe beeinfluss­t diese schmerzhaf­te Modernisie­rung an vielen Stellen. Dies ist Spinneys wahres Thema und ihr besonderes Verdienst ist es, unseren so oft auf Europa und Nordamerik­a verengten Blick zu weiten, um globale Verschiebu­ngen sichtbar zu machen. Auch der Wissenscha­ft gelingt es erst so, einen Killer dingfest zu machen, der keinen Unterschie­d macht zwischen Kultur und Hautfarbe. Außer in Europa fallen überall mehr Menschen der Grippe zum Opfer als dem Krieg.

 ??  ??
 ??  ?? Laura Spinney:1918 – Die Welt im FieberAus dem Englischen von Sabine Hübner, Hanser,384 S., 26 ¤
Laura Spinney:1918 – Die Welt im FieberAus dem Englischen von Sabine Hübner, Hanser,384 S., 26 ¤
 ??  ?? Joachim Käppner:1918 – Aufstand für die Freiheit Piper,528 S., 28 ¤
Joachim Käppner:1918 – Aufstand für die Freiheit Piper,528 S., 28 ¤

Newspapers in German

Newspapers from Germany