Ganz und gar lesen

Kürzlich sah ich ein Grundschulkind: Es saß auf dem Sofa und las konzentriert in einem Buch. Zugleich hatte es einen Kopfhörer auf. Das passte für mich nicht zusammen: Ich dachte an Kinder, die ihre Hausaufgaben vor dem Fernseher machen und dabei noch zu Mittag essen. Ich dachte an junge und ältere Menschen, die immer ihr Smartphone im Blick haben: beim Gehen, Essen, Arbeiten, ja sogar beim Reden mit anderen.

Ich dachte auch an mich selbst, weil auch ich leider zu viel nebeneinander mache. Dabei weiß ich: vieles wäre besser und schneller erledigt, wenn es meine ganze Konzentration hätte. Und mir selbst ginge es vermutlich auch besser. Wie andere leide auch ich unter dem Druck der zu vielen Informationen, die ich täglich aufnehmen muss.

Also bin ich auf das Kind zugegangen und habe es belehrt: „Es ist besser, immer nur eines von beidem zu machen: lesen oder Musik hören.“Das Kind sah mich verständnislos an und meinte: „Aber ich lese doch nur. Den Kopfhörer habe ich, damit mich nichts beim Lesen stört.“Und wirklich, jetzt sah ich es: an den Kopfhörern war gar kein Abspielgerät.

Ich war nicht nur etwas blamiert, sondern schon auch ein wenig neidisch: wie schön, so ganz und gar für ein Buch da sein zu können! Und ich erinnerte mich an die eigene Kindheit, als das manchmal noch gelang: tagelang lesen. Ein ganzes Buch am Stück, ohne sofort darüber einzuschlafen!

In einem Psalm Israels heißt es „Ich ließ meine Seele still und ruhig werden“(Ps. 131,2). Man kann gut fragen, ob wir uns diese innere Ruhe überhaupt leisten dürfen in einer Welt, die immer schneller und lauter wird und in der uns die Not scheinbar aus jeder Ecke anschreit. Trotzdem: Immer alle Sinne auf Empfang stellen – Gottes Segen hat das nicht. Ich will es wieder einmal probieren: ein Buch; ein Platz, an dem ich mich wohlfühle; Zeit und Stille – und einfach lesen. Vielleicht probiere ich es auch mit einem Kopfhörer.